Malte Roschinski - Experte sieht im Fall Magdeburg „sicheren Hinweis auf Behördenversagen“

FOCUS online: Stand jetzt fünf Tote und 200 Verletzte. Taleb A. konnte ein Blutbad auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt anrichten, obwohl er zuvor – auch öffentlich - mehrfach eine Gewalttat angekündigt hatte. Vieles deutet auch auf ein Behördenversagen hin. Ihre Einschätzung?

Malte Roschinski: Das Drohverhalten von Taleb A. hat die Besonderheit aufgewiesen, dass es nicht in gängige ideologische Muster gepasst hat. Er ist weder links- noch rechtsextremistisch einzuordnen, und erst recht nicht islamistisch.

Dennoch hat seine Geisteshaltung einen starken politischen Bezug. Es ist nicht auszuschließen, dass diese schwere Festlegbarkeit auch Zuständigkeitsprobleme bei Sicherheitsbehörden verursacht hat. Was möglicherweise hinzukommt: Weil er bislang als Menschenrechtsaktivist in Erscheinung getreten war, wurde seine eskalative Rhetorik eventuell nicht als prioritär besorgniserregend eingestuft.

Und schließlich kann der Fall auch in einer Vielzahl anderer Bedrohungsfälle schlicht untergegangen sein. Ein sicherer Hinweis auf behördliches Versagen ist jedoch auf jeden Fall, dass eine frühere Verurteilung von Taleb A. wegen Androhung von Straftaten nicht in Bezug zu aktuelleren Drohungen gesetzt wurde.

Angeblich gab es auch Hinweise der saudischen Dienste, dass Taleb A. eine Terrortat plane. Können Sie dazu etwas sagen?

Roschinski: Es ist plausibel, dass der saudische Nachrichtendienst Taleb A. auf dem Radar hatte, da er sich als regimekritischer Dissident präsentierte und in dieser Rolle auch international medienpräsent war.

Daher wäre es nachvollziehbar, dass der saudische Dienst Erkenntnisse sammelte und diese auch an deutsche Dienststellen weitergab, um Konsequenzen zu erwirken. Wenn jedoch Saudi-Arabien Beschuldigungen gegen einen oppositionellen politischen Aktivisten erhebt, erscheint dies aus deutscher Sicht auf den ersten Blick nicht notwendigerweise als alarmierend – es könnte sich um den Versuch einer Intrige handeln.

Es ist möglich, dass die unterschiedlichen kulturellen und politischen Perspektiven hier die effektive Wahrnehmung der Gefahr beeinträchtigt hat.

„Merkmale, die auf geistige Verwirrung hindeuten“

Taleb A. gibt sich als Anhänger der AfD und Anti-Islamismus-Aktivist. Zuletzt radikalisierte er sich. In einer Art Verschwörungshysterie beschuldigte er den Staat und mit ihm die Polizei, Islamisten in Deutschland an die Macht zu verhelfen. War dieses Profil zu sonderbar, um ernst genommen zu werden?

Roschinski: Die Äußerungen von Taleb A. in sozialen Medien weisen in ihrer Gesamtheit besonders in den vergangenen zwölf Monaten Merkmale auf, die auf geistige Verwirrung hindeuten können.

Er bewegte sich intellektuell in einer für Außenstehende schwer verständlichen Melange von pro-westlichen Menschenrechtsgedanken, einem ziellosen Philosophieren über Themen wie Freiheit und Sozialismus und ultrarechten Verschwörungstheorien. Dazu kamen dann immer stärker Gewaltphantasien. Dies kann bei oberflächlicher Analyse durchaus erst einmal so erscheinen, als handele es sich um eine psychisch erkrankte Person, die kaum ernstzunehmen ist.

„Unter dem Strich stellt der Fall Taleb A. eine Ausnahmeerscheinung dar“

Ist Taleb A. ein Einzelfall oder Teil einer arabischen Community, die  Deutschland und den Islam zu ihrem gemeinsamen Feind erklärt haben?

Roschinski: Die Gemeinschaft von vormals muslimischen Menschen, die sich vom Islam abgewandt haben und dies in Aktivismus umsetzt, ist insgesamt überschaubar. Es handelt sich eher um ein Randphänomen – zumindest, was die öffentliche Wahrnehmung betrifft. Das hat auch damit zu tun, dass Glaubensabtrünnigen im Islam nach konservativer Interpretation der Tod droht. Unter dem Strich stellt der Fall Taleb A. eine Ausnahmeerscheinung dar.

Taleb A. ist Arzt in einer psychiatrischen Klinik bei Magdeburg. Er soll Wochen lang nicht mehr zur Arbeit erscheinen sein. Hier war also noch einmal eine Chance, Behörden zu involvieren. Wie blicken Sie darauf?

Roschinski: Aus Sicht der Klinik ist dies zunächst einmal ein arbeitsrechtliches Problem gewesen, bei dem Sicherheitsbehörden im Regelfall nicht aktiv werden. Momentan ist unklar, ob das Fehlen von Taleb A. zur Einschaltung von Behörden seitens des Arbeitgebers geführt hat. Beispielsweise wäre ja denkbar, dass Kollegen aus eigenem Antrieb Nachforschungen angestellt haben könnten und dann auf besorgniserregende Online-Aktivitäten gestoßen sein könnten, mit Weitergabe an die Behörden. Doch dort gibt es keinen Melde-Automatismus.

Wir haben hier ein Gesamtbild, das nicht in die Reihe schrecklicher Anschläge in Deutschland passt. Fällt ihnen noch etwas auf, was wichtig für eine erste Gesamtbewerung ist?

Roschinski: Wir sehen erneut, dass bestimmte terroristische Taktiken und Methoden nicht exklusiv von festgelegten ideologischen Richtungen verwendet werden. Eine spektakuläre Tat wie einen Anschlag auf eine arglose Menschenmenge, noch dazu emotional-kulturell aufgeladen mit Weihnachts-Symbolik, ist nicht nur für dschihadistische Täter attraktiv.

Die zu erwartende breite Medienresonanz nach solchen Taten wird von radikalisierten Personen und Gruppierungen aufmerksam verfolgt und kann zu Nachahmungen führen, auch über ideologische Grenzen hinaus. Und auch labile Persönlichkeiten können sich unabhängig von politischer Zuordnung eines solchen taktischen Werkzeugs bedienen. Das haben wir in der Vergangenheit beispielsweise in Deutschland bei Überfahrtaten in Münster 2018 und Trier 2020 gesehen.

Wie können sich Geheimdienste und Polizei besser auf neue Tätertypen einstellen?

Roschinski: Eine stärkere sachgebietsübergreifende Koordination kann das behördeninterne Verständnis für jeweils andere Tatphänomene stärken. Dazu sollte eine engmaschige und zeitnahe Erfassung und Auswertung von möglicherweise neuen Trends bei gewaltorientierten Ideologien kommen. Dies würde jedoch weitere Investitionen in Personalstärke und Ausbildung erfordern. Und selbst bei dem Versuch, behördliche Kapazitäten deutlich zu erhöhen, werden immer Sicherheitslücken und blinde Flecken bleiben. Und nicht zuletzt brauchen solche Fähigkeitsverbesserungen lange Zeit, bis sie wirksam werden. All das wird in Deutschland zusätzlich noch mit einem sehr engen rechtlichen Korsett beschränkt.