Anke Ballmann über „Seelenprügel“ - Pädagogin enthüllt, was in Kitas schiefläuft – und wie die kindliche Psyche leidet

FOCUS Online: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die meisten der etwa 13 Millionen Kinder in Deutschland in den ersten sechs Lebensjahren psychisch misshandelt werden. Das klingt dramatisch.

Ballmann: Ich will nicht schwarzmalen, aber ich wage zu behaupten, dass es in den meisten Kitas Erzieherinnen gibt, die wissentlich oder auch unwissentlich psychische Gewalt anwenden und das täglich, denn es ist ihr „normaler“ Ton und Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern. Dabei ist es mir sehr, sehr wichtig, auf diese Tatsache immer wieder hinzuweisen: Die meisten Erzieherinnen sind wunderbar, liebevoll, äußerst professionell und bewusst und lieben ihren Beruf und die Kinder, mit denen sie zu tun haben! Mir geht es in meinem Buch ausschließlich um die schwarzen Schafe, die jedoch leider nicht selten sind.

Gewalttätige Erzieherinnen werden nur selten bestraft

FOCUS Online: Aber es muss doch jemandem auffallen, wenn so viele Kinder verletzt werden. Warum kommt es so selten zu Anzeigen und echten Strafen?

Ballmann: Das ist leider ein fataler Kreislauf aus Nicht-Hinsehen, ängstlichem Schweigen oder einer falschen Einschätzung der Vorgänge, vor allem durch die Kolleginnen der „Täterinnen“. Von diesen werden viele Taten, beispielsweise abwertende Aussagen, gar nicht als so sehr gewaltvoll wahrgenommen. 

Und gibt es dann doch einmal zivilcouragierte Erzieherinnen, die gewisse untragbare Vorfälle und fortgesetzte psychische Misshandlungen der Leitung melden, werden deren Aussagen nicht immer ernst genommen. Die mutigen Erzieherinnen bekommen dann oft selbst Probleme mit der Leitung oder dem Träger. Außerdem kommt es – auch wenn die Kollegin gehört wird – meist nur zu Gesprächen mit den „Täterinnen“, und diese bekommen Chancen über Chancen, sich zu bessern. Was dann leider in den meisten Fällen nie passiert. 

Nur in extremen Fällen, die meist auch körperliche Misshandlungen miteinschließen, folgen auch endlich arbeitsrechtliche Konsequenzen.

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FOCUS Online: Wenn Erzieherinnen unbewusst psychische Gewalt ausüben – liegt es dann an einer unzureichenden Ausbildung?

Ballmann: Ja, oft – nicht immer – stimmt das vor allem in Bezug auf psychische Gewalt. Es reicht nicht aus, wenn in den Ausbildungen die Themen Kindeswohl und Schutz vor Gewalt thematisiert werden. Das Thema psychische Gewalt braucht besondere Beachtung, denn „Erziehungsmethoden“, wie Kinder Strafe sitzen zu lassen, sind gesellschaftlich oft noch akzeptiert. Es ist noch viel zu selten klar, wie verheerend sich zum Beispiel Demütigungen auf Menschen auswirken können. Viele Erzieherinnen wissen wirklich nicht, was sie da eigentlich tun oder den Kindern antun – sie haben es oft selbst genau so erlebt in der eigenen Kindheit, und es ist als Verhalten deswegen normal für sie. Viele kommen gar nicht auf die Idee, dass gewaltvolles Verhalten auch still sein kann und ständig verabreichte abschätzende Blicke sehr weh tun können. 

FOCUS Online: Wie könnte dem entgegengewirkt werden?

Ballmann: Am besten wären natürlich Eignungstests für diese Berufe, wie es sie ja für Piloten zum Beispiel schon gibt. 

FOCUS Online: Was müsste sich denn kurz- und langfristig ändern, damit Kinder in Kitas wirklich gut aufgehoben sind?

Ballmann: Kurz- und langfristig brauchen wir eine Null-Toleranz-Grenze bei übergriffigem und gewaltvollem Verhalten Kindern gegenüber. Es muss in Zukunft schneller gehandelt werden, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Und es müssen Aus- und Weiterbildungsangebote geschaffen werden, die wesentlich mehr auf die prinzipielle Eignung, Reflexionsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung der Erzieherinnen achten. 

Wie Eltern eine gute Einrichtung erkennen

FOCUS Online: Nach der Lektüre Ihres Buches muss man sich als Elternteil die Frage stellen, ob man sein Kind überhaupt guten Gewissens in Kita oder Kindergarten betreuen lassen kann. Was ist Ihre Meinung?

Ballmann: Ja, das kann man auf jeden Fall! Denn die Zeit, die ein Kind in der Kita verbringt, ist zwar wichtig – das absolut wichtigste aber sind und bleiben die Eltern! Selbst wenn in der Kita einiges nicht so gut läuft, können liebevolle Eltern, die Zeit mit ihren Kindern verbringen, das wieder ausgleichen, indem sie ihr Kind ernst nehmen und ein würdevolles Leben als Familie leben. 

FOCUS Online: Trotzdem verbringen viele Kinder ja sehr viel Zeit in den Einrichtungen.

Ballmann: Und deshalb möchte ich mit meinem Buch vor allem dazu beitragen, dass alle Familienmitglieder genauer hinsehen, wenn sich ein Kind, das eine Kita besucht, anders als sonst benimmt, verschüchterter wirkt oder jeden Morgen Anzeichen sehen lässt, dass es nicht mehr in die Kita möchte und wenn es abgeholt wird, weint, denn das können Symptome für Überlastung sein. Die Symptome von psychischer Gewalt sind nach außen zwar nicht immer sichtbar, aber bei genauerer Beobachtung des Kindes schon feststellbar. In diesem Sinne rufe ich hier alle Eltern zu einer höheren Achtsamkeit auf, ohne sie jedoch per se in Panik oder Ängste versetzen zu wollen. 

FOCUS Online: Wie können Eltern denn eine gute Einrichtung erkennen?

Ballmann: Eltern sollten sich zunächst nicht durch eine schicke äußere Fassade blenden lassen. Sie sollten vielmehr darauf achten, ob sie sich selbst in der Einrichtung, wenn sie sie betreten, auch spontan wohlfühlen. Und sie sollten vor allem darauf achten, wie die Mitarbeiter miteinander umgehen. Das wichtigste – sie sollten versuchen, die Stimmung zu erspüren. Ich schaue mir auch immer den Zustand der Pflanzen und der Toiletten an, daran kann man auch erkennen, ob „Fürsorge“ insgesamt und auf allen Ebenen stattfindet oder eben nicht. Eltern könnten auch einfach mal hören, was sie so alles wahrnehmen, ob zum Beispiel viel geschrien wird. Sie können darauf achten, ob Kinder sich selbst Essen nehmen dürfen, ob sie jedes Essen akzeptieren müssen und ob sie schlafen dürfen, wenn sie müde sind – auch außerhalb der Schlafenszeiten. Das alles können gute Indikatoren sein, obwohl es die absolute Sicherheit bei einer solchen Einschätzung nicht gibt.

Dieser Artikel erschien im Oktober 2019 und wurde aktualisiert.