Gastbeitrag von Sylvie Goulard und Markus Kerber - EU am Scheideweg - Zukunft Europas hängt jetzt mehr denn je an Scholz und Macron

Deswegen wird es vor der Erweiterung der Union um die genannten Beitrittskandidaten unabwendbarer Teil europäischer Politik werden müssen, den Kern zu definieren und institutionell zu verankern.

Auch die russische Aggression im Osten der Union und ihre sicherheitspolitischen Folgen für die gesamte EU erzwingen einen faktischen Kern handlungsfähiger und handlungswilliger Staaten. Und für den Fall eines – nicht auszuschließenden – Rückzugs der USA aus der Nato braucht ein sicherheitspolitisch souveränes Europa diesen Kern, um militärisch starke und politisch unterschiedliche Partner wie das Vereinigte Königreich und die Türkei einbeziehen zu können.

Die Frage der Architektur des festen Kerns kann jedoch nur beantwortet werden, wenn der „Kern des Kerns“, nämlich Frankreich und Deutschland, in diesen Fragen einheitlich und gemeinsam zu handeln beginnen.

Deutschlands Russlandpolitik war verhängnisvollster Alleingang unter vielen

Schäuble und Lamers haben vor 30 Jahren klar und deutlich gefordert, dass Berlin und Paris zueinanderfinden und alle nationalen Zweideutigkeiten unterlassen müssen. Doch leider bestehen genau hier die Probleme unverändert fort.

In der Eurokrise mag Deutschland zwar Verantwortung für Europa und seine Währung übernommen haben – auch mit Partnern, die ihre früheren Zusagen nicht ganz eingehalten hatten. Aber die Alleingänge Deutschlands in den Bereichen Energie (Gas aus Russland und Ausstieg aus der Atomenergie) und bei der Migration haben leider gezeigt, dass auch in Berlin im Zweifel die nationale Versuchung siegt.

Das Risiko eines deutschen Sonderwegs in der Russlandpolitik auf Kosten der europäischen Partner hatten Schäuble und Lamers in ihrem Papier ausdrücklich benannt. Dieser Sonderweg sollte sich als verhängnisvollster unter den vielen deutschen Alleingängen erweisen.

Was Deutschland – als Folge dieser strategischen Fehleinschätzung – im militärischen Bereich jahrelang unterlassen hat, wird auf viele Jahre hinaus Europas Verteidigungsfähigkeit schaden und die Sicherheit Osteuropas bedrohen.

Auch Frankreich ist nicht immer klar in seinen Zielen

Aber auch Frankreich ist nicht immer klar in seinen Zielen. Emmanuel Macron hat im Januar 2017 in seiner Humboldt-Rede in Berlin den Begriff der „europäischen Souveränität“ geprägt. Seitdem wirbt er für ein machtvolles Europa – ohne zu sagen, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Seit dreißig Jahren träumt man in Frankreich von europäischer Macht, ohne europäische Strukturen zu wollen. Und Macron bleibt so zweideutig wie seine Vorgänger.

Mehr denn je gibt es im Jahr 2024 zu viel Unausgesprochenes, Verschwiegenes und Unklares im Kern des Kerns. Und nichts zeigt die Widersprüche Europas – und wie wir uns selbst schwächen – besser als die separaten Reisen von Präsident Macron und von Bundeskanzler Scholz nach China.

Als ob es nicht von entscheidender Bedeutung wäre, die fragile EU-Außenpolitik sowie den Binnenmarkt der EU in Drittländern zu verteidigen, reisen unsere politischen Führer auf eigene Faust und buhlen von nationalen CEO-Mannschaften umgeben um nationale Vorteile.

Nach drei verlorenen Dekaden ist jetzt die Zeit gekommen, die Vorschläge von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble endlich zu verwirklichen. Dies ist unsere tiefe Überzeugung. Denn wir haben die Grenzen des heutigen Systems erreicht.

Die Veränderung wird ihre Mehrheit

In vielen persönlichen Gesprächen mit uns beiden haben Wolfgang Schäuble und Karl Lamers in den vergangenen Jahren immer wieder betont, wie notwendig es sei, die Europäische Union gerade jetzt entschlossen weiterzuentwickeln. Die weltweite Konkurrenz der politischen Systeme und die Tendenz zur Bildung regionaler Interessensphären zwingen uns dazu.

Viele Skeptiker werden nun sofort betonen, dass für ein solches Programm keine Mehrheit zu finden wäre. Das glauben wir nicht. Denn angesichts der militärischen Bedrohung der EU durch Russland, einer neuen, multipolaren Weltunordnung, und auch der enormen klimapolitischen Herausforderungen, wird diese Veränderung ihre Mehrheit finden.

Deutschland und Frankreich als Kern des Kerns sollten ein Strategiegremium ins Leben rufen, das mit Strategen und Foresightexperten (Anm. d. Red.: Zukunftsforscher) aus beiden Ländern besetzt ist, die Szenarien und mutige Vorschläge sowohl in den Bereichen Verteidigung, Energie, Migration und Gesellschaft als auch auf wirtschaftlicher, sozialer und haushaltspolitischer Ebene entwickeln.

Anstrengung lohnt sich, um ein stärkeres Europa zu schaffen

Die Überlegungen dieser kleinen Gruppe sollten frei von administrativen und politischen Routinen sein, mit einem Blickwinkel, der die nationalen Ansätze überwindet. Die Welt aus der Sicht des Nachbarn zu betrachten und daraus Schlüsse für ein vereintes Europa zu ziehen, ist der notwendige Kontrapunkt zur Verzwergung. Dazu wird Mut nötig sein.

Aber diese Anstrengung lohnt sich, um tatsächlich ein stärkeres Europa zu schaffen, das als einziges in der Lage ist, die Freiheit und die Interessen der Europäer in der Welt zu verteidigen. Dies lässt sich nicht mit der Logik der kleinen Schritte erreichen. Die Europäische Union ist der beste Beweis dafür, dass Kooperation mehr bringt als der Wille zur Dominanz, freiwillige Zusammenarbeit mehr als Nationalismus.

Karl Lamers sah in der EU unseren Beitrag zu „einer besseren Welt“. Wolfgang Schäuble empfahl in schwierigen Zeiten die Lektüre von Perikles: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit und das Geheimnis der Freiheit ist Mut“. Berlin und Paris brauchen diesen Mut. Zur Zusammenarbeit und zur Führung in Europa.