Deutschland und das Völkerrecht – es ist ein einziges Dilemma. Eine Großbaustelle, die diese Bundesregierung selbst aufgemacht hat. Niemand vertritt die Idee, die Beziehungen der Staaten müssten auf einer Ordnung des Rechts gründen, so nachdrücklich wie die grüne Außenministerin Annalena Baerbock.
Das Konzept dahinter: Eine Ordnung des Rechts soll eine Ordnung der Macht und der Einfluss-Sphären von Staaten und Großmächten ersetzen. An die Stelle einer bi- oder tripolaren Ordnung – Großmächte teilen die Welt unter sich auf – tritt eine multilaterale Ordnung, in der alle gleiche Rechte haben. Und diese Rechte, das ist das Völkerrecht. Das klingt gut – stößt aber an die Grenzen, die die Wirklichkeit unbarmherzig setzt.
Im Ukraine-Krieg bricht Russland das Völkerrecht, nicht allein die Bundesregierung beklagt permanent diesen Rechtsbruch, sondern der gesamte Westen tut das. Und? Was hilft es, wenn der Westen nicht in der Lage ist, diesen Rechtsbruch zu stoppen? Was hilft es, wenn andere Großmächte diesen Rechtsbruch auch noch unterstützen – wie China? Und was hilft es, wenn sich große Staaten wie Brasilien den Konsequenzen, die das Völkerrecht in diesem Fall verlangt, nicht anschließt, also weitreichende Sanktionen verhängt?
Glaubt jemand, dass Putin in Den Haag bald vor Gericht steht?
Und glaubt irgendjemand, dass Wladimir Putin demnächst in Den Haag vor Gericht steht? Will sagen: Im Fall Russlands ist das Völkerrecht ein Papiertiger. Und warum: weil die Macht stärker ist als das Recht.
Damit ist nichts gesagt über den Ausgang dieses Krieges, sondern nur über die Bedeutung des Völkerrechts dabei. Falls die Ukraine gewinnt, liegt es nicht am Völkerrecht, sondern an seiner Courage, seinem Selbstbehauptungs- und Freiheitswillen und an den Waffen. Falls Russland gewinnt, dann wäre damit auch nur einmal mehr der faktische Vorrang der Macht vor dem Recht bewiesen.
Die Staaten des so genannten Globalen Südens werfen dem Westen, auch der Bundesrepublik, regelmäßig „Doppelstandards“ vor. Weil der Westen sich nicht für ihre Konflikte interessiere, sondern nur für seine. Weil er die Ordnung des Rechts nicht überall auf der Welt gleichermaßen reklamiere, sondern nur, wenn es in seinem Interesse liege. So sei es besonders im Fall Israels.
So „argumentiert“ auch eine stabile, linke Demonstranten-Szene in Deutschland – und anderswo im Westen. In Washington brannten gerade amerikanische Fahnen, aus Protest gegen den Besuch des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu in den Staaten. Als Netanjahu im Kongress redete – eine Ehre – gab es übler Zwischenrufe. Bernie Sanders, die graue, linke Eminenz der US-Demokraten, klagte, wie könne man nur einen „Kriegsverbrecher“ im Hohen Haus reden lassen.
In Deutschland versetzte ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen Israelkritiker in Wallung – so sehr, dass der Bundeskanzler sich zu Klarstellungen genötigt sah. Und die fielen deutlich aus. Der Gerichtshof hat diese Rechtsauffassung vertreten:
Die gesamte Besatzung palästinensischer Gebiete sei rechtswidrig. So sei es auch mit dem Siedlungsbau. Israel betreibe Rassendiskriminierung – durch die Ungleichbehandlung von Palästinensern und Israelis in den besetzten Gebieten. Und: Jeder Staat sei verpflichtet, alles zu unterlassen, was diese Politik Israels fördere. Olaf Scholz reagierte unmissverständlich:
Scholz: Bundesregierung wird weiter Waffen an Israel liefern
Diese Bundesregierung werde auch weiter Waffen an Israel liefern. Sie lehne sie einen Boykott von israelischen Waren ab, der Bundeskanzler nennt allein eine solche Vorstellung „eklig“, was für den Hanseaten ungewöhnlich emotional ist. Was der Gerichtshof da aufgeschrieben habe, sei „ein Gutachten“ – gemeint war: NUR ein Gutachten, also nichts, was die außenpolitische Beinfreiheit Deutschlands einschränken müsste. Damit nicht genug:
Die „Zweistaatenlösung“, die nicht nur die Bundesregierung, sondern der gesamte Westen wie eine Monstranz vor sich herträgt, versieht Scholz mit dem Zusatz: „Perspektive“ – will sagen: nichts, was morgen vor der Tür steht. Und was heißt das nun für das Völkerrecht?
Faktisch ist das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs nichts wert. Nicht nur die Israelis lassen sich nicht davon beeindrucken – die Hamas auch nicht. Sie lässt ihre israelischen Geiseln nicht frei, auch dies ein elender Verstoß gegen das Völkerrecht. Andererseits:
Die Hamas, das sind Terroristen, was will man von denen erwarten – Treue zum Völkerrecht gehört wohl kaum dazu. Da aber in deutschen Medien, genauso wie international, die Kritik am Staat der Juden eingeübt ist, kommt es zu einem gewaltigen Ungleichgewicht: Israel steht allein über die Diskussion seiner Völkerrechtsverstöße nicht nur als Friedenshindernis da, sondern als „Apartheidstaat“, der einen „Genozid“ an den Palästinensern begehe. Dabei ist es umgekehrt:
Die Israelis mögen auch Täter sein – über die Kriegführung in Gaza. Aber sie sind es: Als Opfer. Hier ist das Völkerrecht sogar klar: Zivile Einrichtungen, die von einer Kriegspartei als Tarnung genutzt werden, gelten als legitimes Kriegsziel. Selbst wenn es Schulen und Krankenhäuser sind. Und was „verhältnismäßig“ im Sinne des Völkerrechts ist, ist Auslegungssache.
Annalena Baerbock betont stets den Zynismus der Hamas
Außenministerin Annalena Baerbock betont stets den Zynismus der Hamas, sich hinter der eigenen Bevölkerung zu verstecken und sie als Schutzschild zu missbrauchen. Die meisten Opfer der Palästinenser sind in dieser – zutreffenden – Lesart, nicht Opfer der israelischen Soldaten, sondern der eigenen Leute.
Schließlich die Zweistaatenlösung – zunächst einmal: wollen sie die Palästinenser überhaupt? „From the river tot he sea“ beschreibt keine Zwei-, sondern eine Einstaatenlösung – ohne Israel. Und die Charta der Hamas sieht die Vernichtung der Juden vor. Der Unterschied zwischen Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde von Präsident Abbas sind allenfalls graduell, aber nicht grundsätzlich.
Baerbock hat auf eine Interview-Frage, wer solle Gaza kontrollieren, dies gesagt: „Die Palästinenserinnen und Palästinenser – frei von der Hamas, frei von Terror, selbstbestimmt und mit einer frei gewählten Regierung aller Palästinenser, also auch im Westjordanland.“ Nun:
Das Land, dessen Verfassung als Voraussetzung der eigenen Staatlichkeit Baerbock da beschreibt, gibt es nicht. Die Hamas, das sind Terroristen, und im Westjordanland redete niemand über freie Wahlen. Im Klartext:
Bevor sich die Palästinenser nicht selbst befreit haben von Terroristen und antisemitischen und antiisraelischen Extremisten, wird es einen palästinensischen Staat nicht geben. Und leider sagen die eigenen Umfragen in diesen Gebieten: Die Hamas wird getragen von der großen Mehrheit der eigenen Bevölkerung. Ein Palästinenserstaat, dessen Staatsräson in der Vernichtung Israels besteht, wird es nicht geben. Bleibt am Ende auch noch die Geografie:
Zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland gibt es keine Landverbindung. Ein Palästinenserstaat, der aus zwei nicht miteinander verbundenen Landesteilen besteht – wie sollte so ein Gebilde funktionieren?
Die Zweistaatenlösung ist eine politische Befriedungsformel, hinter der sich vor allem westliche Staaten verstecken. Sie lässt sich unter Berufung auf ein allenfalls eingeschränkt wirksames Völkerrecht politisch gebührenfrei hochhalten.
In Deutschland lebende Araber werden zu Wählergruppe
Die Wirklichkeit lehrt auch, dass die Solidarität mit Israel im Westen umso mehr abnimmt, je mehr sie die Einwanderung von israelfeindlichen Migranten erlauben. Verstärkt wird dieser Effekt durch die ideologische Nähe zwischen „links“ und „Pro-Palästina“. Kamal Harris befand sich im Einklang mit dem linken Flügel ihrer Partei, als sie den Kongress-Auftritt Netanjahus für einen Wahlkampfauftritt schwänzte.
In Deutschland lebende Araber, die einen deutschen Pass haben, werden irgendwann zu einer relevanten Wählergruppe.
Und ein Wahlzettel beeinflusst am Ende Politik stets mehr als ein Völkerrecht, dessen Durchsetzung vor allem eine Machtfrage ist.
Die Vereinten Nationen sind ein – bewährter - Anti-Israel-Club. Am Ende deshalb eine Provokation, als rhetorische Frage:
Ist das Völkerrecht selbst nicht eine Machtfrage?