Kam aus Sri Lanka - Als Kind geflüchtet, heute Herzchirurg: „Ihr wisst gar nicht, was für ein Leben ihr in Deutschland habt“

 

Was meinen Sie mit Luxus? In einem Ihrer Bücher schreiben Sie, Sie hätten als Kind keine „Alltagsschuhe“ gehabt, seien stets barfuß gelaufen.

Arunagirinathan: Mit Luxus meine ich vor allem die Infrastruktur und die damit verbundenen Möglichkeiten. Gestern wurde für einen Patienten eine Untersuchung angefordert, er brauchte ein CT. Und hat es direkt bekommen. Eine Nachbarin meiner Mutter in Sri Lanka hat zuletzt viele Wochen lang auf ein CT warten müssen. Sie hat einen Tumor im Magen. Das nur als ein Beispiel. Tatsächlich meine ich mit Luxus und Möglichkeiten bei weitem nicht nur die medizinische Versorgung. Schauen Sie, bei meiner Mama habe ich auf dem Boden geschlafen, auf einer Palmenmatte. Um Trinkwasser zu bekommen, muss man erstmal losgehen, zum Brunnen. Und wenn man 300 km zurücklegen will, ist man einen ganzen Tag unterwegs. Wenn ich solche Dinge hier in Deutschland in meinem Umfeld erzähle, hören die Menschen aufmerksam zu. Ich habe den Eindruck, das macht was mit ihnen.

Was?

Arunagirinathan: Der Frust, den ich gerade bei vielen Leuten wahrnehme, wird weniger. Übrigens: Ich möchte mich selbst da gar nicht ausnehmen. Auch ich ärgere mich über die Deutsche Bahn, wenn wieder mal ein Zug zu spät kommt. Aber wenn ich aus Sri Lanka komme, ist meine Toleranzschwelle anders. Frust und Gestaltungswille schließen sich in den meisten Fällen aus. Doch genau das braucht unser Land: Gestaltungswille. Dafür müssen wir in die Verantwortung gehen. Ich erkläre den Zusammenhang gerne so: Ich bin dankbar, dass diese Gesellschaft mich aufgenommen und gefüttert hat, mir Geborgenheit gab und gibt. Ich finde es wichtig, dass man sich bewusst macht, dass all das nicht im luftleeren Raum entstanden ist. Die Gesellschaft besteht aus Menschen. Jeder Einzelne trägt zu dem bei, was hier in Deutschland passiert. Jeder Einzelne trägt also Verantwortung.

Im Moment ist die Stimmung im Land nicht gerade die beste. Viele Menschen sorgen sich um die Zukunft. Angst ist wohl noch so etwas, was Gestaltung eher schwierig macht.

Arunagirinathan: Das sehe ich genauso. Und wie gesagt: Im Alltagsstress laufe auch ich Gefahr, mich einer gewissen allgemeinen Unzufriedenheit hinzugeben. Was mir da raushilft, ist der Blickwechsel. So führe ich mir beispielsweise immer wieder vor Augen, dass ich mich damals bewusst für Deutschland entschieden habe. Nicht für Indien, nicht für Italien – nein, für dieses Land hier, das so viel zu bieten hat. Wenn wir nach links und rechts schauen und die eigene Wahrnehmung größer werden lassen, geschieht etwas mit uns. Ja, eine Gesellschaft kann sich ändern. Eine entsprechende Berichterstattung kann dabei helfen. Schaut mal, wie es anderswo aussieht – so etwa. Schaut mal, wie weit wir hier in Deutschland entwickelt sind. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Prozess im Guten weitergeht. Nochmal: Lasst uns Verantwortung übernehmen.

Wie kann das konkret gelingen?

Arunagirinathan: Für mich ist ein zentraler Aspekt das Thema Bildung. Als ich nach Hamburg kam, wo ich bei meinem Onkel in einem sozialen Brennpunkt gelebt habe, habe ich zwei sehr unterschiedliche Seiten Deutschlands erlebt. Da waren einmal die Behörden, wo ich grimmige, ruppige, genervte Menschen erlebte. Ich war nicht willkommen. Aber in der Schule, da war es anders. Wenn ich daran denke, wie mir die Lehrer und Lehrerinnen die Richtung gezeigt und den Weg geebnet haben, wie sie mich angespornt und ermutigt haben, bekomme ich noch heute eine Gänsehaut. Ohne sie wäre ich niemals so weit gekommen. Und jetzt kommt es: Wohin schaue ich, im Rückblick auf meine erste Zeit in Deutschland? Auf die Ämter? Oder auf die Lehrer? Ich glaube, ein Stück weit haben wir da die Wahl. Ich habe immer mehr auf das geschaut, was mir Kraft gegeben hat, weiterzumachen.

Und das hilft Ihnen, im Hier und Jetzt Verantwortung zu übernehmen?

Arunagirinathan: Absolut. Heute besuche ich Schulen und unterstütze junge Menschen, die ein Pflegestudium machen. Indem ich mir bewusst mache, was ich habe und bekommen habe, entsteht fast automatisch der Wunsch, zurückzugeben. Dankbarkeit fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Um den sorgen sich viele gerade.

Arunagirinathan: Ich tue das auch. Man weiß ja: Je mehr Parteien entstehen, desto gespaltener ist die Gesellschaft. Aber im Klein-Klein lässt sich immer weniger bewegen. Ein Beispiel: Ich bin selbst homosexuell. Aber ich tue mich schwer mit Institutionen, die sich ausschließlich für die Interessen von Schwulen einsetzen. Hey, wieso tun wir uns nicht mit vielen anderen Minderheiten zusammen, frage ich mich. Zusammen wären wir viel stärker, könnten viel wirksamere Impulse setzen. Es gibt allerdings eine Grundvoraussetzung für den positiven, gestaltungsfreudigen Blick.

Und die wäre?

Arunagirinathan: Eine Grundvoraussetzung ist, dass wir uns mit dem Land, in dem wir leben, identifizieren. Ich finde, wir müssen hier mit offenen Karten spielen, uns selbst gegenüber ehrlich sein. Eine Gesellschaft, die nicht kritikfähig ist, kann sich nicht entwickeln. Ich erlaube mir hier aus meinem biographischen Hintergrund heraus, sehr deutlich zu sein.

Beim Thema Migration meinen Sie?

Arunagirinathan: Ja, ich bin schließlich nicht mehr nur der Flüchtling, der ich einmal war. Als Mitglied der deutschen Gesellschaft sehe ich durchaus die Probleme, die durch Migration entstehen. Als Gesellschaft schaffen wir es nicht, unbegrenzt vielen Menschen ein Zuhause zu bieten. Finanziell könnte der deutsche Staat eine Menge leisten, doch in kultureller Hinsicht sehe ich Schwierigkeiten im Hinblick auf die Integration. Wir sind uns selbst humanitäres Handeln schuldig.

Das heißt?

Arunagirinathan: Wir sind verpflichtet, uns um die Verfolgten und Bedrohten zu kümmern, ihnen Obdach zu gewähren. Doch wir können nicht allen Menschen, die auf ein besseres Leben hoffen, ein Zuhause bieten. Das Grundgesetz benennt sehr präzise, welche Faktoren ein Recht auf Asyl begründen - auch mein Asylantrag ist zunächst übrigens abgelehnt worden und ich war erst mal nur in Deutschland geduldet. Allgemeine Perspektivlosigkeit im Heimatland darf kein Asylgrund sein - mir ist bewusst, dass ich mit dieser Äußerung anecke. Doch meine Haltung ist klar: Ich möchte in Deutschland Menschen sehen, die sich als Mitglied der Gesellschaft fühlen. Die die Grundwerte fördern und die Verfassung erhalten wollen. Genau das macht uns aus.

Was sagen Sie Menschen, die sich abgehängt fühlen?

Arunagirinathan: Dass ich dieses Gefühl nur zu gut kenne. Zu Beginn des Studiums kam ich zum ersten Mal mit Kreisen in Berührung, in denen Geld kein Thema war. Viele meiner Kommilitonen waren Kinder von Akademikern oder anderen Gutverdienen. Manchmal verabredeten sich die anderen im Restaurant. Das kam für mich nicht infrage, für einen solchen Abend hätte ich etliche Stunden arbeiten müssen. Ich schwindelte dann, ich sei verabredet oder wolle lernen…

Aber dabei blieb es nicht?

Arunagirinathan: Irgendwie habe ich Wege gefunden, trotzdem in Kontakt zu kommen. Es gab zum Beispiel dieses Studenten-Kino, für 2,50 DM pro Film. Restaurantbesuche dagegen waren wie gesagt nicht drin. Aber eine Packung Spaghetti mit Soße für 0,99 DM, die konnte man mit ein paar Tricks strecken und dann langte es auch mal für zwei. Zum Glück, mit der Zeit wurde ich bei den Kommilitonen echt beliebt. Mein Gefühl war: Ich bin auf dem Weg.

Was hat unterwegs geholfen?

Arunagirinathan: Da sehe ich zwei Dinge. Erstens: Der Lifestyle der anderen hat mich eher motiviert als frustriert. Da wollte ich hin. Zweitens: Ich habe immer das Gemeinsame gesucht, mich wenig mit dem Trennenden aufgehalten. Einen eigenen Computer konnte ich mir nicht leisten. Also habe ich andere Studenten um Unterstützung gebeten – und diese auch angenommen, wenn sie kam.

War das denn manchmal nicht der Fall?

Arunagirinathan: Nicht immer. Eine Kommilitonin wollte mir zum Beispiel ihre Bücher nicht ausleihen, damit ich daraus kopieren konnte. Aber diese Situation war mir vertraut, zumal nach acht Monaten Flucht. Genau wie damals war mir auch jetzt, mit der Kommilitonin, klar: Es gibt keine Alternative zum Weitergehen und dazu, trotzdem immer wieder auf Unterstützung zu setzen. Es hat dann ja auch geklappt, Probleme mit Studienmaterialien hatte ich nie wieder. Tatsächlich steckt meiner Erfahrung nach ganz viel Humanitäres in den Menschen. In den allermeisten Menschen zumindest. Sie freuen sich, wenn sie helfen können. Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber das ist kein Grund, einzuknicken. Schon damals, während der Flucht, habe ich gelernt, den Mund aufzumachen, wenn es drauf ankam.

Um dem Gegenüber was zu sagen?

Arunagirinathan: Sinngemäß: Du hast den Schlüssel. Damit bist du Teil meiner Zukunft. Du musst mir den Schlüssel nicht schenken, du musst mir ihn vielleicht noch nicht mal leihen. Aber durch seinen Einsatz kannst du mir den Weg frei machen. Es geht nicht nur um materielle Unterstützung. Gesellschaftlicher Zusammenhalt hat viele Facetten. Für mich persönlich ist es entscheidend, dass wir es schaffen, diese Kraft insgesamt wieder mehr wahrzunehmen. Das, was ich als Einzelner gelernt habe, können wir auch als großes Ganzes lernen, bin ich überzeugt. Ja, im Moment kriselt es. Auch ich hatte in meinem Leben weiß Gott nicht immer nur glückliche Momente…

Und da meinten Sie jetzt nicht nur die Flucht?

Arunagirinathan: Nicht nur. Ja, ich hatte Hunger, habe den Tod gesehen, ich lag unter einem Bananenbaum und wusste nicht, ob ich den Tag überleben würde. Aber auch in Deutschland gab es Prüfungen. Zweimal stand ich auf dem Dach eines Hochhauses und habe dachte daran, zu springen. Was mich gehalten hat, war sicher auch die Erinnerung. Ich war so oft in meinem Leben gestolpert. Aber ich war jedes Mal wieder aufgestanden. Vielleicht sind wir als Gesellschaft jetzt an so einem Punkt. Wir sollten uns gemeinsam fürs Aufstehen entscheiden. 

Hilft es, wenn wir uns dabei auf unsere Grundfarbe besinnen?

Arunagirinathan: Sicher. Dafür plädiere ich ja. Die Grundfarbe Deutsch ist das, was diese Gesellschaft für die Deutschen aller Hautfarben ausmacht. Also die deutsche Sprache, die Freiheit zur Selbstentfaltung, Gleichberechtigung und noch einiges mehr. Möglicherweise gelingt uns die Rückbesinnung auf unsere Grundfarbe eher, wenn wir gelegentlich zu unseren Wurzeln schauen.

Wie meinen Sie das?

Arunagirinathan: Ich habe diese Metapher mal bei einer Veranstaltung der Bundesregierung anlässlich des Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung gehalten. Damals, im April 2018, hielt ich eine Rede, in der ich sagte, ich sei als ein kleines Bäumchen, als Mangobäumchen, hierhergebracht worden.

Und jetzt sind Sie ein großer Mangobaum?

Arunagirinathan: Ich sehe vielleicht so aus. Ein Mangobaum kann niemals eine deutsche Eiche werden. Genau so habe ich es in meiner Rede gesagt. Und dann: „Aber habt ihr meine Wurzeln gesehen? Nein. Die kann man von außen gar nicht sehen. Ein Baum wächst nicht ohne neue Wurzeln. Meine Wurzeln sind in Deutschland entstanden. Ich habe viel gegessen, ich habe das Wasser hier bekommen. Ich habe den Schutz, die Geborgenheit in unserer Demokratie, in einem christlich geprägten Land bekommen. Es ist jetzt auch meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass dieses wunderbare, christlich geprägte Land die Menschlichkeit nicht verliert.“

Drohen wir die Menschlichkeit zu verlieren?

Arunagirinathan: Ich sehe hier schon ein Problem. Ich sehe aber auch, dass ganz viel Menschlichkeit da ist. In diese Richtung sollten wir schauen. Noch mal: Der gelegentliche Perspektivwechsel hilft dabei. Wenn ich die Mittel und Möglichkeiten hätte, würde ich Austauschprogramme für Schulen auf die Beine stellen. Jedes Kind sollte für eine gewisse Zeit Einblick in ein Entwicklungsland gehabt, eine andere Kultur kennen gelernt haben. Den eigenen Blick immer wieder zu drehen und weit werden zu lassen ist für mich Voraussetzung, um die vielen gesellschaftlichen Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Jeden Tag wieder neu.