„Gender Queer“ von Maia Kobabe: Die Suche nach dem eigenen Ich

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„Was ist los mit mir?“ In dem autobiografischen Comic „Gender Queer“ erzählt Maia Kobabe einfühlsam von der Suche nach Identität. © Maia Kobabe/Reprodukt-Verlag

„Gender Queer“, der meistzensierte Comic in den USA, ist jetzt auf Deutsch im Reprodukt-Verlag erschienen. Maia Kobabe erzählt eine „nicht-binäre Autobiografie“. Unsere Kritik:

Elf Jahre ist es inzwischen her, dass Maia Kobabe nach San Francisco gezogen ist, um den Master in Comic-Zeichnen zu machen. „In den vergangenen Monaten musste ich meinem Umfeld immer wieder versichern, dass es diesen Abschluss wirklich gibt“, heißt es gleich auf der zweiten Seite von „Gender Queer“. Dieses Motiv des Versicherns, des Bestätigens, des Klarmachens, dass Dinge existieren können, von denen andere Menschen vielleicht nichts wissen (oder wissen wollen), zieht sich durch Kobabes Leben. Auf sehr viel existenziellere Art, als es die Wahl eines Studienfachs ist.

Kobabe wurde 1989 als Mädchen in Kalifornien geboren. Je älter sie wurde, desto weniger konnte sie sich mit ihrem Geschlecht – und den Zuschreibungen durch ihre Umwelt – identifizieren. Heute definiert sich Kobabe als nicht-binär und asexuell. „Ich habe mich mein Leben lang weder männlich noch weiblich gefühlt“, heißt es im Buch. „Ich wollte immer eine dritte Variante.“ Bis zu dieser Erkenntnis hat es jedoch lange gedauert, davon erzählt „Gender Queer“.

„Gender Queer“ von Maia Kobabe ist im Reprodukt-Verlag erschienen

Diese „nicht-binäre Autobiografie“, 2019 in einem Kleinverlag herausgekommen, provozierte konservative und reaktionäre Kräfte in den USA in einem schier unvorstellbaren Ausmaß: Zwei Jahre nach Erscheinen geriet sie ins Visier einiger Republikaner. Der Gouverneur von Virginia, Glenn Youngkin, machte Bücherverbote gar zum Thema seines Wahlkampfs. Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, hielt während einer Fernsehdebatte Anfang des Jahres eine Seite aus dem Comic in die Kamera und warf dem Buch „Pornografie“ vor.

Dabei erzählt Kobabe viel mehr von der Abkehr von Sexualität zugunsten einer anderen Form der Intimität. Vor allem aber findet auf den 240 Seiten eine sehr umsichtige, behutsame Suche nach der eigenen Identität statt. Noch grundsätzlicher: nach dem Verständnis für den eigenen Körper. Doch Inhalte interessierten nicht – „Gender Queer“ wurde in der Folge aus immer mehr US-Schulbibliotheken entfernt. Als heuer im Mai die Liste der meistzensierten US-Bücher des vergangenen Jahres veröffentlicht wurde, stand der Titel erneut ganz oben. Zum dritten Mal in Folge.

Porträt von Maia Kobabe
Debüt mit „Gender Queer“: Maia Kobabe. © M. Ruddell

„Die US-Debatte zeigt, wie Zensur und Buchverbote als Mittel eingesetzt werden, um politisch Druck auszuüben – nicht nur in autokratisch regierten Ländern, sondern sogar in Demokratien wie den Vereinigten Staaten“, erläuterte Tanja Graf, Leiterin des Münchner Literaturhauses, damals im Gespräch mit dem „Münchner Merkur“. „Es geht immer darum, als unliebsam erachtete Themen zu diffamieren oder zu unterdrücken oder Menschen als nicht zugehörig zu markieren. Maia Kobabe benennt in ihrem mutigen Buch, was es heißt, sich anders zu fühlen. In einigen konservativ regierten US-Bundesstaaten wird das als Provokation empfunden.“ Als Graf und ihr Team „Gender Queer“ in ihre Ausstellung „Verbotene Bücher“ aufgenommen haben, die bis Februar 2024 am Salvatorplatz zu sehen war, hatte sich noch kein deutscher Verlag gefunden, der Kobabes Werk herausbringen wollte.

Das hat sich nun zum Glück geändert. Pünktlich zum „Pride-Month“, der an die Errungenschaften der lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgender Gemeinschaft erinnert, hat der Berliner Reprodukt-Verlag eine sehr gelungene Übersetzung von Matthias Wieland vorgelegt. Jetzt können sich endlich auch deutsche Leserinnen und Leser ein eigenes Bild davon machen, was bei Teilen des konservativen Amerikas für Schnappatmung sorgte.

Und das ist vor allem: eine sehr anrührende, dramaturgisch gut erzählte Geschichte über einen Menschen, der im besten Sinne zu sich selbst gefunden hat. Künstlerisch hätte dies zwar sehr viel radikaler, mutiger umgesetzt werden dürfen. Doch ist auf jeder Seite zu spüren, dass es Kobabe nie um Provokation geht, sondern um Verständnis. Um Achtsamkeit, um ein Wort zu verwenden, das heutzutage gerade in öffentlichen Debatten keinen Platz mehr zu haben scheint. Kobabe verharmlost dabei nichts. Allen (Seelen-)Qualen zum Trotz ist der Tonfall dieses Buchs jedoch von lässiger Entspanntheit. Und die tut sehr gut.

Informationen zum Buch:
Maia Kobabe: „Gender Queer“. Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Wieland. Reprodukt-Verlag, Berlin, 240 Seiten; 20 Euro.

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