Österreichische Seestadt - Kaum Autos, viel Natur: Am Rande von Wien wächst die grüne Stadt der Zukunft

Was sehen Sie da?

Brandstetter: SUVs, die sich vor Einzelfamilienhäusern drängen, die von Menschen bewohnt werden, die sich dann täglich in die Stadt stauen. In der Seestadt dagegen wurde das Auto von Anfang an bewusst in den Hintergrund gestellt, und das ist etwas, das ich als bewusst autoloser Mensch sehr schätze. Ich weiß aber auch, dass ich hier privilegiert bin, anderswo tut man sich fußläufig viel schwerer…

Weil keine Busse und Bahnen fahren oder wenn, dann viel seltener?

Brandstetter: Ja und das hat einen einfachen Grund. In der Regel werden Stadtviertel erst im Nachhinein verkehrstechnisch erschlossen, aber in der Seestadt war die U-Bahn schon da, bevor die ersten Gebäude standen. Die Strecke ist schon 2013 verlängert worden. Dieses „Infrastrukturausbau vor Bebauung“-Prinzip ist relativ einzigartig. Hinzu kommen gut ausgebaute Radwege und breite Fußgängerzonen. 

Die auch entsprechend genutzt werden?

Brandstetter: Es gibt Studien, die belegen, dass 80 % der Seestadt-Bewohner:innen ihre täglichen Wege ohne Auto zurücklegen – das ist fast doppelt so viel wie in vergleichbaren Wiener Stadtteilen.

Man liest allerdings auch Kritik an der Seestadt. Wie stehen Sie zur Behauptung, einige Flächen seien zu stark versiegelt, Schotterflächen gar als Grünflächen deklariert worden?

Brandstetter: Das ist ein Punkt, bei dem ich sagen muss, das hat auch mich massiv gestört. In den Anfangsphasen des Projekts gab es einige Fehler bei der Flächenversiegelung, was zu Problemen geführt hat.

Nämlich?

Brandstetter: Flächen, die versiegelt und mit wenigen Bäumen gepflanzt sind, können schlechter mit Starkregen umgehen und kühlen an Hitzetagen schlechter. Durch Teile der Seestadt ist im Winter der Wind durchgepfiffen, es war eisig kalt. Im Sommer dagegen gab es Rekordtemperaturen. Was mir aber an der Seestadt gefällt, ist, dass man daraus lernt und Dinge nachbessert. 

Wie zum Beispiel?

Brandstetter: Durch Initiativen wie „Seestadtgrün“ wurde viel unternommen. Von offizieller Seite wurde hier und da wurde nachbegrünt, bestehende Flächen wurden umgestaltet. Auch das Stadtteilmanagement sorgt mit Initiativen wie einem Nachbarschaftsbudget dafür, dass Bewohner:innen sich verstärkt partizipativ einbringen können. Ich habe beispielsweise mit dem ansässigen Kindergarten Vogelhäuschen gestaltet und im Seepark angebracht, der Bezirk hat Futter gespendet. Ich finde es positiv, dass die Verantwortlichen auf Kritik reagieren und das Konzept weiterentwickeln. So bleibt die Seestadt ein lebendiges Projekt, das sich ständig verbessert. Wir dürfen nicht vergessen: Die Seestadt ist als Stadt der Zukunft von Anfang an unter realen Bedingungen gebaut worden. So manche Konzeptüberlegung ist inzwischen 20 Jahre alt. Damals gab es einen anderen Wissensstand, ein anderes Know-how, andere Technologien. 

Es soll in der Seestadt einige zukunftsweisende Projekte im Bereich Klimaschutz geben. Können Sie hierzu ein bisschen was erzählen?

Brandstetter: Da gibt es tatsächlich viele spannende Dinge! Beispielsweise das Schwammstadt-Prinzip, das im Quartier „Am Seebogen“ erstmals in Österreich groß eingesetzt wird. Dabei wird Regenwasser gezielt in den Boden geleitet, um die Bäume mit Feuchtigkeit zu versorgen und gleichzeitig das Risiko von Überschwemmungen zu senken. Das ist nicht nur klimasensibel, sondern auch ein cleveres System, das wir in Zukunft hoffentlich in vielen urbanen Projekten sehen werden.

Was ist mit dem Hoho, über das man immer wieder liest?

Brandstetter: Das ist ein weiteres Highlight, eines der höchsten Holzhybridhäuser der Welt. Es besteht zu 75 % aus Holz, was enorm viel CO₂ speichert, im Gegensatz zu Beton, der viel davon freisetzt. Solche nachhaltigen Bauweisen und Innovationen wie die Plus-Energie-Gebäude im Technologiezentrum Seestadt, die mehr Energie erzeugen, als sie verbrauchen, sind entscheidend für den Klimaschutz und zeigen, dass die Seestadt auch beim Bauen ein echtes „Labor“ ist– hier werden Innovationen in der Praxis erprobt, bevor sie andernorts eingesetzt werden. 

Wie erleben Sie das Leben in der Seestadt - und was hat sich seit Ihrem Einzug verändert? 

Brandstetter: Als ich 2016 herzog, war es hier wirklich noch leer. Es gab nur wenige Geschäfte, und viele sprachen einer Geisterstadt. Aber das hat sich enorm gewandelt. Heute ist die Seestadt lebendig, es gibt zahlreiche Supermärkte, Bäckereien, Schulen, eine Buchhandlung, Fahrradgeschäfte, Restaurants und viele Freizeitmöglichkeiten. Auch die Gemeinschaft wächst. Was ich besonders mag, ist die Vielfalt der Wohnformen. 

Wie genau äußert sich die?

Brandstetter: Es gibt geförderten Wohnbau, aber auch kreative Baugruppen und einzigartige Projekte wie den „Queerbau“. Das fördert eine bunte Mischung von Menschen und schafft ein tolles Zusammenleben. 

Was ist der Queerbau?

Brandstetter: Eine Baugruppe, bestehend aus lauter queeren Menschen. Unten im Wohnhaus befindet sich ein gut besuchtes Nachbarschaftscafé. Dank des Cafés waren die Bewohner von Anfang an extrem gut im Viertel vernetzt. Ein innovatives Wohnprojekt, das speziell für die LGBTQIA+-Community und deren Unterstützer:innen geschaffen wurde. Es fördert ein selbstbestimmtes, gemeinschaftliches Leben in einem inklusiven Umfeld, in dem unterschiedliche Lebensmodelle und Familienformen Platz finden. 

Neben individuellen Wohnungen gibt es gemeinschaftlich nutzbare Räume und Aktivitäten, die das nachbarschaftliche Miteinander stärken. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. In der Seestadt gibt es zahlreiche inklusive Wohnprojekte, die auf gemeinschaftliches Leben, soziale Nachhaltigkeit und Mitbestimmung setzen. In der Seestadt gibt es vergleichsweise viele Kulturen, viele Bildungsschichten. Das Mit- und Nebeneinander funktioniert. Und die Lebensqualität könnte hier wie gesagt kaum besser sein, finde ich. Wo geht sowas sonst: Städtisch Wohnen mit ländlichem Charakter? 

Können Sie hier ein wenig konkreter werden – was bedeutet das für Ihren Alltag?

Brandstetter: Wenn ich im Sommer aus dem Home-Office komme und meine Tochter von der Schule abgeholt habe, können wir zum Beispiel nur fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt in den See springen. Das Wasser ist kristallklar und von Fischschwärmen bevölkert. Und der See ist nicht nur zur warmen Jahreszeit schön. Als ehrenamtliche Trainerin des österreichischen Frauenlaufs drehe ich mit meiner Laufgruppe ganzjährig Runden am Ufer, meine Tochter kann derweil ganz in der Nähe Taekwondo, Ballett oder Bouldern lernen. Das klassische Eltern-Taxi, das anderswo immer noch sehr aktuell zu sein scheint, ist für mich kein Thema. Zum Glück! Abends können meine Tochter und ich gemeinsam Theateraufführungen oder Lesungen in der Buchhandlung vor Ort besuchen. Also gleich um die Ecke. Das ist einfach toll.

Die Seestadt wächst weiter, heißt es. Wo sehen Sie das Viertel in der Zukunft?

Brandstetter: Im Moment leben hier etwa 12.000 Menschen, aber es sind bis zu 45.000 geplant. Was ich besonders gut finde, ist, dass das Wachstum behutsam erfolgt – die Idee ist, den Stadtteil rund um den See zu schließen. Ich hoffe, dass die Seestadt ein Modell für nachhaltiges urbanes Leben bleibt. Es gibt noch so viel Potenzial – von der Nutzung neuer Energiequellen wie Photovoltaik an Hauswänden bis hin zum weiteren Ausbau der nachhaltigen Mobilität oder auch der Stärkung des Naturschutzes und der ökologische Nachhaltigkeit rund um den See. Es gib Pläne, durch naturnahe Gestaltung, die Schaffung von grünen Korridoren und den Einsatz moderner Konzepte wie dem Schwammstadt-Prinzip Flora und Fauna und auch die Lebensqualität der Bewohner:innen weiter zu schützen und zu verbessern. 

Klingt nach einem geballten Programm…

Brandstetter: Das stimmt, hier ist ganz viel im Fluss. Wie gesagt: Es ist zum jetzigen Stand sicher nicht alles perfekt - solange das Projekt aber offen für Innovationen und Verbesserungen bleibt, sehe ich für diesen Stadtteil eine großartige Zukunft.