Bruce Springsteen wird 75: Walküren in den Vorstädten

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Der Boss spielt, der Boss schwitzt: Konzerte von Bruce Springsteen sind Hochämter der Rockmusik. © Robert Alford / Quarto Publishing

Bruce Springsteen, Poet des unerfüllten amerikanischen Traums, wird 75 Jahre alt. Der „Boss“ nutzt unermüdlich die Energie, die entsteht, wenn Illusionen an der Realität zerschellen.

„Ich habe die Zukunft des ㈠Rock’n’Roll gesehen“, schrieb der Musikkritiker Jon Landau im Jahr 1974 in einer Konzertkritik. „Ihr Name ist Bruce Springsteen!“ Vielleicht hat Landau diesen frenetischen Satz auch in die Welt geschickt, weil er die eigentliche Zukunft des Rock’n’Roll schon drei Jahre zuvor erblickt hatte: 1971 hatte Elvis Presley im für einen Rockmusiker biblischen Alter von 36 in Las Vegas eingecheckt, um dort gemütlich seine alten Hits aufzuführen. Es war der Beginn der nostalgischen Entertainment-Industrie, wie wir sie heute kennen. „Am Ende jubeln und applaudieren die Leute“, schrieb Landau damals über ein Elvis-Konzert. „Aber sie erheben sich währenddessen nicht ein Mal aus ihren Sitzen.“

Auch die Musik auf Springsteens besten LPs war hoch nostalgisch, hatte die Euphorie der späten Fünfziger

Wenn man so will, hat Bruce Springsteen, der an diesem Montag, 23. September, 75 Jahre alt wird, den Staffelstab von Elvis übernommen. Doch während der „King“ anfangs noch den amerikanischen Traum verkörperte, arbeitete der „Boss“ sich ab an dem Traum, der für viele Amerikaner in den Siebzigern nicht mehr erreichbar schien. Die Energie, die entsteht, wenn Illusionen an der Realität zerschellen, macht sich der Sänger und Songschreiber zunutze. Dabei war auch die Musik auf seinen besten LPs hoch nostalgisch, hatte die Euphorie der späten Fünfziger. Sein definitives Album „Born to Run“ sollte klingen wie „Roy Orbison, der Bob Dylan singt, während Phil Spector produziert“, wie Walküren, die durch die Vorstädte reiten. Die Geschichten der Songs wirkten wie keine Dramolette, als sei John Steinbecks „Früchte des Zorn“ in Zeiten des New Hollywood noch mal verfilmt worden.

Die E-Street-Band und Bruce Springsteen live auf der Bühne.
Treue Begleiter: Die E-Street-Band live auf der Bühne. © Quarto Publishing / Robert Alford

Im Hannibal-Verlag ist jetzt „75 Jahre Bruce Springsteen“ erschienen, das Buch folgt mit vielen Fotos noch einmal dem Leben dieses Ausnahmemusikers. Sohn irisch-italienischer Einwanderer im US-Bundesstaat New Jersey, keine Leuchte in der Schule, infiziert mit dem Beatles-Virus, danach ziemlich lange ziellos. Columbia Records wollten ihn als „neuen Bob Dylan“ aufbauen, doch erst die Zusammenarbeit mit der E-Street-Band und vor allem dem Visionär Landau machten aus ihm einen Song-Poeten, der die Risse in der Gesellschaft ausleuchtete und die Suche nach Erlösung in flammende Songs goss. Dass das patriotische Pathos von „Born in the USA“ zutiefst gebrochen war, missverstanden viele, allen voran US-Präsident Ronald Reagan. In den Achtzigern war der Boss ein Superstar.

Heute blickt der „Boss“ auf 170 Millionen verkaufte Tonträger zurück

Im Gegensatz zu vielen Kollegen musste Springsteen auch danach nie wirklich einen Karriereknick wegstecken. In den Neunzigern bekam er den Oscar für „Streets of Philadelphia“, mit dem Album „The Rising“ traf er den richtigen Ton nach den Anschlägen des 11. September 2001, wurde von US-Präsident Barack Obama 2016 mit der Freiheitsmedaille ausgezeichnet. Heute blickt er auf mehr als 170 Millionen verkaufte Tonträger zurück. In den vergangenen Monaten gab es immer mal wieder Probleme mit der Stimme und mit Magengeschwüren, doch mit der E-Street-Band tourt er unermüdlich. Bis Ende des Jahres sind Konzerte in den USA und Kanada geplant und für 2025 schon wieder Auftritte in Europa terminiert.

Kein Karriereknick: Bruce Springsteen begeistert bis heute.
Kein Karriereknick: Bruce Springsteen begeistert bis heute. © Mark R. Sullivan via Frank White Photo Agency

Und: Ein Springsteen-Konzert ist nach wie vor kein Kaffeekränzchen. Natürlich ist der Boss längst Teil der nostalgischen Entertainment-Industrie – aber er schwitzt auch drei Stunden durch und reißt sein Publikum ab Minute eins von den Sitzen. Also: Hätte Jon Landau 1971 gewusst, dass die Zukunft des Rock’n’Roll so aussieht, er hätte sich wahrlich nicht beschweren können.

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