Dieser Schrei. Die Panik, die darin zu erkennen ist, wie sich die Stimmbänder überschlagen. Ein ebenso lautes wie hohes und lang gezogenes „Nooo!“ Dieser Schrei geht durch die Ohren direkt ins Knochenmark. Im Gerichtssaal ist am Mittwochvormittag zu spüren, wie er jeden Anwesenden trifft, bewegt, schockiert. Es ist offenbar der Schrei von Klara, der Tochter von Christina Block, die sich aktuell im Entführungsprozess als Angeklagte verantworten muss.
Dieser Schrei ist eine Reaktion. „You’re going to mama“, sagt einer der Entführer zuvor. Ihr geht zu Mama. Offenbar will er die Kinder beruhigen – und erreicht das Gegenteil. Immer wieder ist ein Aufstöhnen zu hören, ein Murmeln, das wegen eines Knebels nicht verständlich ist. Rascheln, Autos, Knistern. Die Kinder liegen im Fußraum des Autos und marschieren mit den Entführern durch ein Waldstück.
Dieser Schrei ist Teil der Gerichtsakten und kann im Original als Audio abgespielt werden, weil ihn ein Alarmknopf aufgezeichnet hat. Sohn Theodor trug ihn wie eine Halskette und betätigte ihn in der Entführungsnacht am 1. Januar 2024 mehrfach. Der dänischen Polizei gelang es nicht, die Entführer noch vor der Überquerung der dänisch-deutschen Grenze zu stellen. Doch die rund 30 Minuten Tonspur helfen jetzt, den Horror zu verstehen, den die Kinder durchlebt haben – und den Fall im Hamburger Gericht aufzuarbeiten.
Der Schrei der kleinen Klara zerreißt Christina Block
An diesem Vormittag gerät die Frage von Schuld und Unschuld erst einmal in den Hintergrund. Auch der Rosenkrieg der Eltern ist für einen Moment vergessen. Keine Tiraden der Anwälte, keine Diskussionen mit der Vorsitzenden Richterin. Die Bestürzung eint alle Beteiligten. Mit diesen Tonspuren rückt das zentrale Thema in den Vordergrund, das der Strafprozess bislang größtenteils verdrängt und doch so viele Menschen bewegt: das Kindeswohl.
Die Eltern hören diesen Schrei offenbar selbst zum ersten Mal. Die Mutter wird vom Schmerz förmlich zerrissen. Sie setzt gar nicht erst die Kopfhörer auf. Die Unmittelbarkeit der Übertragung wäre wohl noch schwerer auszuhalten. Schockstarr sitzt sie auf ihrem Stuhl, vergräbt anschließend komplett aufgelöst das Gesicht in den Händen. Ihr Lebensgefährte Gerhard Delling, wegen Beihilfe angeklagt, leistet ihr in der anschließenden Pause Beistand. Stephan Hensel, Vater und Nebenkläger, ringt ebenfalls sichtlich mit der Fassung. Im Saal, in dem die Zuschauer sonst gerne tuscheln, herrscht eine gespenstische Stille, während die Lautsprecher die Tonspuren übertragen.
Sie sollen helfen, herauszufinden, ob und welche Verantwortung die Mutter für die Entstehung trägt. „Ist das etwas, womit Frau Block zu tun hat?“, fragt Anwalt Ingo Bott, um die Linie seiner Mandantin zu unterstreichen: „Keine Mutter würde so etwas für ihr Kind wollen.“ Genau deshalb sei eine Beauftragung der Entführung so abwegig. Der Mutter, deren Kinder im August 2021 mutmaßlich vom Vater rechtswidrig entzogen worden sind, sei es immer um persönlichen Kontakt gegangen. Niemals hätte sie Gewalt gebilligt, um das aus ihrer Sicht gültige Recht wiederherzustellen. Sie hätte es sofort verhindert.
Tonaufnahmen sorgen für "äußerst emotionale Situation" im Prozess
Blocks Reaktion verdeutlicht das. „Die Aufnahmen sind erschütternd, meine Mandantin ist erschüttert“, ordnet der Verteidiger ein, das Gehörte habe ihr „sehr, sehr zugesetzt“. Und trotzdem stehen diese schwerwiegenden Vorwürfe gegen sie im Raum.
Für den Vater sagt Anwalt Philip von der Meden: „Das ist eine äußerst emotionale Situation.“ Der Vormittag sei nicht einfach gewesen. Hier werde deutlich, dass Strafprozesse schlimme Beweismittel enthielten. „Die Kinder waren offensichtlich in einer fürchterlichen Notsituation.“ Die Aufnahmen belegten die große Angst der Kinder, sie hätten sich ausdrücklich gewehrt und nicht zur Mutter gewollt.
Nach der Mittagspause fällt das Verfahren dann wieder in die gewohnten Routinen zurück. Die Tiraden der Anwälte, die gegenseitigen Vorwürfe rund um den bitteren Sorgerechtsstreit als den Auslöser dieser Entführung.
Zwischen Erklärungen, Ermahnungen, Diskussionen und Beanstandungen versucht die Vorsitzende Richterin Isabel Hildebrandt, dieses Mammutverfahren inhaltlich voranzutreiben. Es liegt an ihr und der Kammer, herauszufinden: Wer trägt für diesen Schrei und die Entführung die Verantwortung? Wer hat welche Funktion rund um die Entführung eingenommen?
Die Suche nach der Antwort wird das Gericht noch bis Juni 2026 und in weiteren Verfahren darüber hinaus beschäftigen. Für alle Angeklagten gilt bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung.