Versprochene Härte gegen Totalverweigerer: Bürgergeld wurde kein einziges Mal voll gestrichen

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Wenn Bürgergeld-Empfänger nicht mitziehen und sich Jobangeboten verweigern, sollen sie harte Sanktionen bekommen. In der Praxis soll das bisher noch nie passiert sein.

Berlin – Hubertus Heil hat beim Bürgergeld eine Wende durchgemacht. Die Reform selbst sollte die Grundsicherung für Erwerbslose verändern: Statt einer einfachen schnellen Vermittlung in Arbeit, die häufig unpassend war, sollte der Fokus auf Weiterbildung gelegt werden. Im Zuge der Haushaltskrise stand die Ampel-Koalition unter Druck und die Härte kehrte wieder zurück. „Wer nicht mitzieht und sich allen Angeboten verweigert, muss mit härteren Konsequenzen rechnen“, hatte Arbeits- und Sozialminister Heil im vergangenen Frühjahr erklärt.

Ein erster Schritt war die Option, sogenannten „Totalverweigerern“ das Bürgergeld für zwei Monate komplett zu streichen. Wer innerhalb von zwölf Monaten zweimal eine zumutbare Stelle ablehnt, erhält kein Geld. Lediglich die Kosten für Miete und Heizung sollen die Jobcenter noch zahlen. Soweit zumindest die Regel.

Keine Bürgergeld-Streichungen gegen „Totalverweigerer“? Fehlende Daten erschweren Analyse

In der Praxis ist bisher unbekannt, wie oft die Jobcenter den „Totalverweigerern“ das Bürgergeld vollständig gestrichen haben. In den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zu Sanktionen finden sich dazu keine Daten. Die Erhebung falle „ungleich schwer“, erklärte das Bundesarbeitsministerium nun der Welt. In den Jobcentern würden diese Zahlen nicht so erfasst, „dass sie einheitlich abgerufen werden können“.

Aktuelle Stellenangebote nicht angenommen? Im vergangenen Jahr haben Hubertus Heil und die Ampel-Koalition die Option geschaffen, „Totalverweigerern“ das Bürgergeld zu streichen. (Montage) ©  Jens Kalaene/Kay Nietfeld/dpa

Was die Daten zeigen: In den zwölf Monaten von Oktober 2023 und September 2024 haben die Jobcenter 21.766 Sanktionen wegen der Weigerung einer „Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses“ ausgesprochen. Eine Ausweisung, wie häufig individuelle Leistungsbezieher aus diesem Grund sanktioniert wurden und als „Totalverweigerer“ gelten, gibt es nicht.

Vorhandene Statistiken zu Bürgergeld-Sanktionen zeigen: Kaum jemand schlägt Arbeit aus

Die 21.766 Sanktionen sind im Vergleich zu den 1,6 Millionen Bürgergeld-Empfängern, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, mit 1,36 Prozent verschwindend gering. Zudem macht der Bereich der Arbeitsverweigerung lediglich einen Anteil von 6,5 Prozent an allen Sanktionen aus.

Die Höhe der Sanktionen gegen die Arbeitsverweigerer ist ebenfalls unbekannt. Durchschnittlich haben die Jobcenter von Januar bis September 2024, was die aktuellsten Daten sind, den Regelsatz um 7,72 Prozent gekürzt. Vollständige Streichungen würden den Durchschnitt deutlich nach oben ziehen.

Bericht legt nahe: Wohl keinem „Totalverweigerer“ wurde Bürgergeld gestrichen

„Wohl keinem einzigen“ Bürgergeld-Empfänger wurde der Regelsatz vollständig gestrichen, berichtete die Welt am Sonntag. „Wir sehen keine Effekte“, zitiert die Zeitung den Leiter eines Jobcenters, der anonym bleiben wolle. Es sei wahrscheinlich gar nicht vorgekommen, dass die Totalsanktionen umgesetzt wurden.

Die Welt hat nach eigenen Angaben zudem 60 Jobcenter in allen Bundesländern angefragt. Keine der Behörden habe „auch nur einen dokumentierten Fall nennen“ können, heißt es. Der Grund sei das komplizierte Verfahren, ehe die Totalstreichung gegen Arbeitsverweigerer verhängt wird. Bereits kurz nach Inkrafttreten erklärten Kritiker, dass die Hürden für die Bürgergeld-Sanktion zu hoch seien.

Allein die Möglichkeit der Bürgergeld-Streichung führe zu „Feinjustierung“ – erklärt Heil-Ministerium

Bürgergeld-Empfänger müssen zunächst zweimal innerhalb eines Jahres ein Jobangebot ausschlagen. Ehe Jobcenter die Sanktion verhängen, müssen sie die Betroffenen noch mündlich oder schriftlich anhören. Wenn sie im Laufe des Prozesses kooperieren, gebe es keine Streichung mehr. Dazu gehöre etwa bereits das Einreichen eines Krankenscheins, heißt es im Welt-Artikel. Trotzdem erkenne das Bundesarbeitsministerium eine „sinnvolle Feinjustierung“, aufgrund der präventiven Wirkung der Sanktionsmöglichkeit.

Unterstützung erhält das Ministerium aus der Arbeitsmarktforschung. „Der Anteil der tatsächlich Sanktionierten an allen Leistungsempfängern ist gering“, hatte Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) IPPEN.MEDIA erklärt. Allerdings gibt es auch Verhaltensanpassungen im Vorhinein, um erst gar nicht sanktioniert zu werden. „Diese Reaktionen fallen stärker aus, wenn Sanktionen wahrscheinlicher sind.“

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