Großer Umfrage-Vergleich: Knall in Rumänien, Orbán in Nöten – so real ist der „Rechtsruck“ in Europa
Driftet Europa wirklich kollektiv nach rechts? Wir haben Umfragen aus 29 Ländern ausgewertet – die Ergebnisse bergen Überraschungen.
Vom „Rechtsruck“ in Europa ist alle naselang die Rede. Doch was ist dran? Der Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA hat aktuelle Umfragedaten zu den Parlamentswahlen von 29 europäischen Ländern ausgewertet und als interaktive Karte aufbereitet. Das Ergebnis: Rechtspopulisten und Extremisten bauen ihren Stimmenanteil in den Sonntagsfragen weiter leicht aus. Mittlerweile liegt er quer durch die betrachteten Länder im Durchschnitt bei knapp 20 Prozent. Bei der vorherigen Ausgabe aus dem Januar 2024 waren es noch 18,2 Prozent. Hinweise zur Methodik finden Sie in der Infobox.
Die AfD liegt dabei mit 22 Prozent (laut Forschungsgruppe Wahlen) bei Weitem nicht vorne. Weder was die absoluten Zahlen, noch was die Zuwächse in jüngerer Zeit angeht. Allerdings sind die Rechtsaußen in einigen Staaten zuletzt auch in Schwierigkeiten geraten. Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick:
Große Umfrage-Auswertung: Wo die radikalen Rechten in Europa am stärksten sind
Der höchste Wert ist zugleich ein Sonderfall: In Flandern, Landesteil Belgiens, kommen die Parteien N-VA und Vlaams Belang auf 49,1 Prozent. Aufgrund des Wahlsystems gibt es allerdings keine aktuellen Wahlumfragen für das ganze Land. Im französischsprachigen Landesteil Wallonie spielen derartige Kräfte keine Rolle. Das Bild im Parlament wäre also gemäßigter.

In Polen und Rumänien kommen Rechtspopulisten und/oder -radikale landesweit auf über 40, in Italien und Frankreich auf über 35 Prozent in den Sonntagsfragen. In all diesen Ländern haben die entsprechenden Parteien seit der letzten IPPEN.MEDIA-Auswertung im Frühjahr 2024 zugelegt – und zwar mit Ausnahme Italiens jeweils aus der Opposition heraus. In Rom koalieren mit Giorgia Melonis Fratelli d‘Italia und der Lega gleich zwei Parteien aus dem rechtspopulistischen Spektrum.
Auffällig hohe Werte gibt es auch in Ungarn (35 Prozent), Österreich (33 Prozent für die FPÖ), der Schweiz (30 Prozent) und den Niederlanden (30 Prozent). Hier sind die jüngsten Entwicklungen allerdings teils ganz anders als etwa in Rumänien:
Rechtspopulisten im Spiegel der Umfragen: Wo es die größten Zuwächse gab
Beim Vergleich mit den Daten von Anfang 2024 stechen zwei Länder stark heraus: In Großbritannien hat „Reform UK“, die neue Partei von Brexit-Verfechter Nigel Farage, mit 17 Prozentpunkten Plus deutlich zugelegt. Allerdings kann das britische Mehrheitswahlrecht solche Verschiebungen abmildern.
Bereits prekär ist die Lage zwischenzeitlich in Rumänien geworden. Dort waren zwei rechtsradikale Kandidaten nahe am Sieg in der Präsidentschaftswahl – es drohten verheerende Folgen für Demokratie und auch Wirtschaft des Landes, wie Raimar Wagner aus dem Bukarester Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung IPPEN.MEDIA sagte. In den Parlamentsumfragen legen die Parteien AUR und S.O.S. Romania nun binnen 17 Monaten insgesamt 20 Prozentpunkte zu. Ein Grund könnte laut Wagner Zorn über gefühlte Selbstbedienungsmentalität und einen Ruch von Korruption unter den langjährigen Regierungsparteien sein.
Weniger dramatisch, aber dennoch bemerkenswert sind Umfragezugewinne der Rechtspopulisten in Norwegen. Dort gewann die Fremskrittsparti (Fortschrittspartei) rund 8 Prozentpunkte verglichen mit Januar 2024 hinzu – der Wahlforscher Bjarte Folkestad attestierte der Partei zudem zuletzt beim Sender NRK eine mittlerweile „solide und loyale Wählerbasis“. Bemerkenswert ist das auch, weil die Entwicklung in den Nachbarländern Schweden und Finnland gegenläufig ist.
Rechtsruck – aber nicht überall: Wo der rechte Rand in Europa einbüßt
Drei erstaunliche Ergebnisse der Stichproben aus 2024 und 2025: Ausgerechnet zwei Führungsfiguren der Rechtenaußen sind in Umfrageschwierigkeiten. In Ungarn ist Viktor Orbán binnen knapp anderthalb Jahren in den Umfragen um sagenhafte 20 Prozentpunkte eingebrochen. Ihm bereitet allem Anschein nach der Mitte-Rechts-Kontrahent (und frühere Parteifreund) Peter Magyar mit der Tisza-Partei Probleme – laut einer weiteren Erhebung des Instituts Media ist Tisza gerade bei Wählern unter 40 Jahren beliebt. In den Niederlanden ist Geert Wilders noch an der Regierung beteiligt, hat aber angesichts schwacher Umfragewerte wohl bewusst die Notbremse gezogen. Geholfen hat das noch nicht: Minus 7 Prozentpunkte stehen zu Buche.
Ein weiterer interessanter Fall sind die „Wahren Finnen“. Auch sie haben – gerundet – im Stichprobenvergleich ein Minus von 7 Prozentpunkten zu beklagen. Und auch sie sind an der Regierung beteiligt. Ein Experte des Rundfunksenders YLE machte zuletzt Unzufriedenheit in Reihen von „Finnen“-Wählern aus der Arbeiterschicht als einen Grund aus. In Schweden dulden die scharf rechten Schwedendemokraten die konservative Regierung. Auch sie profitieren aber nicht. Ihre Probleme sind in absoluten Zahlen weniger groß, dafür aber stabil: Seit Monaten liegen sie unter ihrem Wahlergebnis von 2023.
Rechtspopulisten in Europa: Methodik und Daten des Umfragevergleichs
Für die Daten des Artikels und der interaktiven Karte haben wir stichprobenartig Umfragen aus 29 europäischen Ländern ausgewertet, konkret aus EU, Norwegen, Schweiz, Island und UK. Wo vorhanden, kamen aktuelle Erhebungen aus dem Juni 2025 zum Einsatz – nach Möglichkeit aus derselben Quelle wie bei der Analyse aus dem Frühjahr 2024. Die verwendeten Institute sind in der Karte vermerkt, sie erscheinen ebenso wie die genauen Daten beim Berühren des jeweiligen Landes mit dem Mauszeiger. Im rechten Reiter der Tabelle können Sie zum direkten Vergleich zu den Umfragedaten aus dem Januar 2024 umschalten. Die Werte sind auf ganze Zahlen gerundet.
Grundlage für die Auswahl der betrachteten Parteien ist die „PopuList“, ein Projekt mehrerer europäischer Universitäten – und hierbei die als klar „Far-right“ (rechtsradikal) ausgezeichneten Vereinigungen. Ergänzt sind lediglich zwei dort noch nicht erfasste Parteien: Die klar rechtsextreme S.O.S Romania und die ebenso radikale Hnutie Republika aus der Slowakei, eine Abspaltung der in der PopuList aufgeführten rechtsextremen Kotleba.
Wichtig zu beachten ist: Umfragen bilden nur eine Momentaufnahme ab, sie sind keine Prognosen für Wahlergebnisse. Zugleich handelt es sich nur um ein beispielhaftes Sample, nicht um eine Auswertung großer Datenmengen verschiedener Institute.
Schadet eine Regierungsbeteiligung also den Rechtsaußen? Das wäre als Erklärung wohl zu kurz gegriffen. Ein Gegenbeispiel ist Meloni in Italien – die aber ohne „gemäßigten“ Regierungspartner auskommt. Eine andere Gefahr ist wohl die „Normalisierung“ der radikalen Kräfte durch Regierungsämter: So erklärte Rechtspopulismusforscher Vicente Valentim IPPEN.MEDIA etwa, ein Vorteil der FPÖ (aktuell 30 Prozent) gegenüber der AfD (aktuell 22 Prozent) sei abseits weiterer Effekte eben auch das: der Abglanz der Würde früherer Ämter in den wichtigsten Positionen des Staates.
Keine Chance für Rechts: Welche Staaten ohne Rechtspopulisten im Parlament auskommen
Die Auswertung sieht drei Staaten ohne relevante Parteien auf rechtspopulistischer bis -radikaler Seite: Litauen, Irland und Island. In Litauen und Irland ist die Lage aber nicht mehr so klar, wie sie einmal war: In Litauen erzielt die Partei Nemuno aušra um den durch antisemitische Äußerungen aufgefallenen Remigijus Žemaitaitis in Umfragen wie bei der letzten Wahl hohe einstellige Werte. Sie ist allerdings noch nicht in der „PopuList“ erfasst – und ihre genaue Einordnung im Spektrum Gegenstand von Diskussionen. Für die irischen Parteien Independent Ireland und Aontú gilt Ähnliches, auf etwas niedrigerem Umfrageniveau.
Und schließlich gibt es einige hell gefärbte Sonderfälle auf der Karte. In Kroatien etwa hat die nach westeuropäischen Maßstäben am ehesten klassische rechtspopulistische Partei DP deutlich eingebüßt. Aber migrationsfeindliche Positionen oder ein rückwärtsgewandtes Frauenbild gehören durchaus zum Spektrum der regierenden HDZ, wie Experte Vedran Džihić unserer Redaktion vor einiger Zeit erklärte. In Tschechien wiederum harren nicht nur die mit klaren Rechtsaußentendenzen agierenden „Motoristen“ einer wissenschaftlichen Einordnung. Ex-Ministerpräsident Andrej Babiš schloss seine ANO (im Juni mit 33,5 Prozent Umfrageführende) den „Patrioten für Europa“ an: der Fraktion um Marine Le Pens Rassemblement National, FPÖ und Orbáns Fidesz. Fraglich allerdings, ob das allen in der Partei gefällt – und allen Wählern bewusst ist.
Umfragedaten der Rechtspopulisten im Überblick: Welche Schlüsse sind zu ziehen?
Die Rede vom „Rechtsruck“ trifft wohl nicht – nach der vorliegenden Umfrage-Momentaufnahme liegt das Wort „Rechtsrutsch“ näher. Unklar ist natürlich, wie weit er noch führen wird. So sagte der österreichische Politikwissenschaftler Reinhard Heinisch unserer Redaktion im Herbst 2024, das Potenzial der FPÖ sei wohl bei rund 30 Prozent gedeckelt. Dasselbe gelte für wesensähnliche Parteien in vielen Ländern – jedenfalls mit Blick auf die Gesamtwählerschaft.
Eine andere Frage ist die nach Gegenstrategien. Ein Pauschalrezept scheint noch nicht gefunden. Die wegen ihres scharfen Migrationskurses viel gelobte dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sieht sich in den Umfragen weiter Rechtsaußenparteien mit Werten von insgesamt 15 Prozent gegenüber. Ein zwar eher niedriger, aber kein komplett außergewöhnlicher Wert.
„Die Politikwissenschaft erklärt seit zwei Jahrzehnten: Wenn das Leib-und-Magen-Thema einer Randpartei starkgemacht wird, dann stärkt das die Randpartei und nicht die Partei, die es aufgreift“, betonte hingegen Politikwissenschaftler Christian Martin im Interview. Valentim warnte zudem Politiker etablierter Parteien davor, Rhetorik und Vokabular von Rechtsaußen aufzugreifen – das nütze vor allem ebenjenen Kräften.
Die größte Gefahr – siehe Ungarn, Polen oder auch Slowakei – dürfte bleiben, autoritäre Kräfte in Regierungsverantwortung Hand an Staatsaufbau und Wahlsystem legen zu lassen. Die Gefahr sei weniger, dass die FPÖ einmal 50 Prozent der Stimmen bekomme, sagte Heinisch. „Die Sorge ist eher, dass sie in der Regierung die Verfassung ändert, dass sie eine mehrheitsverstärkende Macht bekommt.“ Als Vorbild in dieser Hinsicht gilt Viktor Orbán. Er hat inzwischen das Wahlsystem so stark verändert, dass es auch eine starke Opposition schwer hat, die Regierung zu übernehmen. (fn)