Die Corona-Pandemie brachte nicht nur ein Virus, sondern auch Widerstand. Bis heute zerreißen „Querdenken“ und Verschwörungstheorien die Gesellschaft.
München – Nur wenige Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie versammelten sich Tausende „Corona-Gegner“ auf den Straßen. „Sind Sie etwa für Corona?“, war eine Frage, die in dieser Zeit zurückkam. Gegen ein gefährliches Virus zu protestieren, eigentlich unmöglich. Die Wut richtete sich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.
Warum eskalierte „Querdenken“ während Corona? Pädagogin erklärt mehrere Effekte
„Die Pandemie ging sehr nah und hat uns alle betroffen“, erklärt Diplom-Pädagogin Sarah Pohl von der Beratungsstelle ZEBRA-BW bei IPPEN.MEDIA. „Mehrere Faktoren haben den Effekt währende der Corona-Pandemie verstärkt.“
Was ist ZEBRA-BW?
ZEBRA-BW bietet eine neutrale Anlaufstelle für Weltanschauungsfragen. Menschen, deren Angehörige etwa Sekten oder Verschwörungstheorien verfallen, können sich hier auch gemeinsam beraten lassen. Das Leitbild: „Nicht alles ist schwarz-weiß.“ ZEBRA-BW will aufklären, nicht diktieren und „Ratsuchende dazu befähigen, selbst kritisch zu urteilen“. Gefördert wird das unabhängige Angebot vom Kultusministerium Baden-Württemberg.
Besonders die neuen Corona-Maßnahmen und Einschränkungen führten zu heftigen Reaktionen. „Freiheit ist für viele ein hoher Grundwert. Die Sorge darum hat viele zu Querdenken hingezogen. Es war wie Pingpong: Stärkere Verbote führten zu stärkeren Einwänden“, erinnert sich Pohl. Es entwickelte sich „ein Kampf der Grundbedürfnisse. Freiheit versus Sicherheit.“
Im Gegensatz zu abstrakten Verschwörungstheorien, wie etwa zur Mondlandung, boten die Corona-Maßnahmen konkrete Anlässe für Widerstand. „Masken und Impfungen waren reale Gegenstände mit praktischer Relevanz, die aktiv abgelehnt werden konnten“, erläutert Pohl. „So ist aus Theorie Verschwörungspraxis geworden.“
Verschwörungstheorien gaben Corona-„Krücke“: „Ungewissheit war für viele schwer auszuhalten“
Die Unsicherheit während der Pandemie war groß. Täglich neue Infektions- und Todeszahlen ohne sichtbaren Ausweg verstärkten das Gefühl der Hilflosigkeit. „Die Ungewissheit war für viele schwer auszuhalten“, sagt Pohl. „Das macht Erklärungen attraktiv, die die Komplexität rausnehmen und einen Sündenbock benennen. Verschwörungstheorien sind wie eine Krücke.“
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Pohl ist überzeugt, dass „die Querdenken-Szene wollte grundsätzlich sicherlich nichts Böses“. Dennoch entwickelte sich „eine heikle Entwicklung mit Risikopotenzial“. Auf den Demonstrationen wurden Abstandsregeln missachtet und Masken bewusst abgelehnt, was zu mehr Ansteckungen und Todesfällen führte.
Die Bewegung der „Querdenker“ mobilisierte zunächst Menschen mit esoterischen Ansichten und besorgte Eltern. Doch bald schlossen sich auch Rechtsextreme und Verschwörungsanhänger an. Teile der Bewegung gerieten unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Es wäre jedoch falsch, alle „Corona-Gegner“ in eine Schublade zu stecken.
IPPEN-Serie: Fünf Jahre Corona
In der Serie zum fünften Jahrestag der Corona-Pandemie spricht IPPEN.MEDIA mit Menschen, die die Pandemie aus verschiedenen Blickwinkeln erlebt, durchlebt und größtenteils noch lange nicht abgeschlossen haben. Auf der Suche nach Folgen, Lehren und der Aufarbeitung.
Im Moment lesen Sie Teil 4 der Serie.
In Teil 1 zieht Virologe Hendrik Streeck Bilanz und spricht über Folgen, Lehren und die Zukunft nach Corona. Teil 2 dreht sich um Deutschlands womöglich größten Corona-Fehler, der vor allem Kinder trifft. Und Teil 3 dreht sich um den „aussichtslosen Kampf“ Tausender Corona-Geimpfter.
Corona machte Problem sichtbar: Babyboomer anfälliger für Verschwörungstheorien
Viele der Betroffenen, die sich bei der Beratungsstelle meldeten, waren erwachsene Kinder, die sich um ihre Eltern sorgten. Ältere Menschen scheinen anfälliger für Verschwörungserzählungen zu sein. Pohl erklärt: „Die Generation der Babyboomer hat weniger Medienkompetenz, wie Studien zu Fake-News zeigen. Digital Natives haben ein anderes Bewusstsein für Nachrichten im Internet entwickelt.“
Eine Studie von Princeton University und New York University stellte beispielsweise schon 2019 heraus, dass Personen über 65-Jahren durchschnittlich siebenmal so viele Inhalte mit Fake-News teilten, als Menschen unter 30. Laut einer Erhebung der Forschungsgruppe gdp haben Gen Z und Millennials dabei auch mehr Vertrauen in sich selbst. In der Studie von 2022 schätzte über die Hälfte der jüngeren Befragten Fake-News im Internet als (leicht) erkennbar ein. Unter Babyboomern sagten 45 Prozent, Fake-News seien für sie eher nicht erkennbar oder sogar überhaupt nicht erkennbar.
„Den prototypischen Querdenker gibt es nicht“, stellt Pohl dennoch fest. „Links, rechts, sozial besser gestellt … es war eine Einheit im Dagegensein.“
Therapeutin erinnert sich an Corona-Eskalationen: Kinder weggenommen, Chlordioxid zu trinken gegeben
Dieses Dagegensein führte nicht nur zu politischen Protesten, sondern auch zu tiefen Rissen in Familien und Freundschaften. Manche Beziehungen zerbrachen an den Corona-Verschwörungstheorien. „Schlimme Eskalationen wurden tatsächlich tätlich“, berichtet Pohl. „Beispielsweise wurden die Kinder weggenommen, weil der Partner sie impfen lassen wollte. In einem Fall wurde einem Kind Chlordioxid zu trinken gegeben.“
Die Spuren, die Corona hinterlassen hat, sind tief. Familien sind entzweit und das Vertrauen in Wissenschaft und Politik hat gelitten. Pohl betont: „Dass es keine Proteste mehr gibt, heißt nicht, dass das Denken weg ist.“
Corona-Risse noch lang nicht geheilt: „Bräuchte anderen Umgang miteinander“
Fünf Jahre nach der Pandemie sind die Wunden noch immer nicht vollständig verheilt. Pädagogin Pohl betont: „Um das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen, bräuchte es einen anderen Umgang miteinander und Selbstreflexion.“ Sie fügt hinzu: „Das ist im Großen wie im Kleinen.“
Wie sollte man reagieren, wenn ein Angehöriger in Verschwörungstheorien abdriftet? Es sei entscheidend, den Kontakt zu diesen Personen aufrechtzuerhalten und sie nicht zu verurteilen, erklärt die Therapeutin. Man solle Menschen nicht mit ihren Meinungen gleichsetzen. Geduld sei ebenfalls erforderlich: „Von Verschwörungstheorien wegzukommen, ist ein Weg. Zum Vergleich: Das ist wie jemand, der sich ungesund ernährt. Wir machen Spinat schmackhaft. Und helfen möglichst, alles ein bisschen mehr zu hinterfragen.“
In der Pandemie war eine Überforderung da. Das muss man gründlicher aufarbeiten als bislang.
Pohl hebt hervor: „Menschen, die sich gehört fühlen, werden leiser.“ Dies sollte auch die Politik berücksichtigen. „Im Großen sollten Selbstverantwortung und Selbstkritik vorgelebt werden. Das würde massiv Vertrauen wiederaufbauen. Da kann die Politik viel aus der Paarberatung lernen“, empfiehlt sie. Die schleppende Aufarbeitung der Corona-Krise trägt derzeit nicht zur Verbesserung bei. „In der Pandemie war eine Überforderung da. Das muss man gründlicher aufarbeiten als bislang. Ein Schuld-Spiel hilft dabei allerdings nicht.“
Es gilt der Grundsatz: „Zum Streit gehören zwei und eine Versöhnung müssen beide wollen.“