"Nicht sinnlos auf fremdem Boden sterben“ - Mit skurrilem Angebot will die Ukraine Kims Truppen zur Aufgabe überreden
Allem Anschein nach wird Russland seine Invasion in der Ukraine künftig auch mit nordkoreanischer Unterstützung bestreiten, die über die Lieferung von Granaten und Raketen hinausgeht. Südkorea und der Westen sind sich sicher: In Russland werden tausende Soldaten des verbündeten Nordkoreas auf einen Kampfeinsatz vorbereitet – und dieser Einsatz dürfte Wladimir Putins verbrecherische Invasion in der Ukraine sein.
Dem militärischen Nachrichtendienst der Ukraine zufolge sind Truppen aus der ostasiatischen Diktatur sogar bereits im russischen Grenzgebiet Kursk angekommen. Einige Nordkoreaner sollen auf ukrainischem Boden getötet worden sein, hieß es zuvor in Medienberichten. Grund genug jedenfalls für die ukrainischen Verteidigungsstreitkräfte, sich auf den Kontakt mit einem bisher unbekannten Feind vorzubereiten – unter anderem mit einem Aufruf, der explizit an „die Soldaten der Koreanischen Volksarmee“ gerichtet ist.
Bitte sterbt nicht sinnlos
„Ihr dürft nicht sinnlos auf fremdem Boden sterben“, steht auf Russisch in einem Telegram-Post vom 23. Oktober. Er wird auf dem Kanal des Projekts „Ich will leben“ verbreitet. Der Messenger Telegram ist in Osteuropa und unter Soldaten auf beiden Seiten des Kriegs beliebt, dem Kanal selbst folgen fast 67.000 Abonnenten. Das Besondere an dem Post: Er ist auch auf Koreanisch verfasst.
Hinter dem Post und dem Projekt steht der ukrainische Staat. Unter anderem das Verteidigungsministerium Kiews zählt zu den Unterstützern. Ziel ist die Versorgung und Koordinierung der Kriegsgefangenen. Wie viele feindliche Soldaten die Ukraine gefangen hält, ist nicht offiziell bekannt, die Inhaftierung aber ist ein wichtiges Ziel. Denn die Männer können bestenfalls gegen gefangene Ukrainer auf russischer Seite ausgetauscht werden.
Auf Telegram teilen ukrainische Soldaten darum regelmäßig Videos aus dem Krieg, die zeigen sollen, wie gut die russischen Gefangenen behandelt werden – mit Medizin, Essen und ohne Folter. Diese Botschaft soll sich nun auch unter den Soldaten herumsprechen, die der Diktator Kim Jong-un als Hilfe für seinen Verbündeten und Bruder im Geiste, Wladimir Putin, entbehrt.
Ihr überlebt und bekommt genug zu essen
Wer sich ergibt, überlebt. Das ist eine der via Telegram verbreiteten Verheißungen, auch im Post für die Nordkoreaner. Angesichts der vielen erschossen oder verwundeten Männer der Invasionsarmee mag es das nachvollziehbarste Argument sein, die Seiten zu wechseln. Amerikanische und britische Militäranalysten bezifferten die Verluste aufseiten der Russen jüngst mit durchschnittlich 1200 Toten oder Verletzten pro Tag. Ein anderes Argument fürs Desertieren lautet: Essen.
Täglich drei Mahlzeiten werden den nordkoreanischen Soldaten versprochen, die ihre Waffen nach Kriegseintritt gleich wieder niederlegen und sich in Gefangenschaft begeben. In einem Video, das zusammen mit dem Post von „Ich will leben“ veröffentlicht wurde, sind Teller mit Essen in einer Kantine zu sehen. Eine Stimme spricht dazu auf Koreanisch, die Rede ist von Fleisch und frischem Gemüse.
An der Front ist die Nahrungsversorgung nicht selbstverständlich. In vielen Berichten bemängeln russische Soldaten die Verpflegung ihrer Einheit. Entweder war das Essen demnach schlecht, oder es fehlte ganz. Auch ein – unbestätigter – Bericht über nordkoreanische Soldaten im russischen Grenzgebiet Kursk, wo sich die Ukraine und Russland seit August gegenüberstehen, deutet auf die miserable Versorgung hin. Angeblich sollen nordkoreanische Soldaten dort von ihren russischen Kameraden tagelang in einem Wald zurückgelassen worden sein, ohne Anweisungen und Verpflegung.
Werden sich die Nordkoreaner überzeugen lassen?
Wird der Aufruf der ukrainischen Armee von den Nordkoreanern gehört werden? Es mag zweifelhaft sein, dass sich die Kunde von den Vorzügen der Kriegsgefangenschaft tatsächlich unter nordkoreanischen Soldaten verbreitet. Haben sie Smartphones dabei? Über ihre Ausstattung ist nichts bekannt, außer, dass die Männer zur Tarnung russische Uniformen tragen – behauptet zumindest der südkoreanische Geheimdienst.
Man darf bei Pjöngjangs Soldaten jedenfalls einen hohen Grad an Indoktrinierung annehmen. Entsprechend schwierig könnte es werden, sie zur Aufgabe zu bewegen. Die Männer kommen aus einem abgeschotteten Land, der Diktator an der Spitze belügt seine Bürger seit Jahren methodisch und beständig. Der Feind sitze im Westen und wolle sie vernichten, heißt es dort, ähnlich wie in der russischen Propaganda. Manche russische Soldaten, so legen es Berichte nahe, ziehen mit der Vorstellung in den Krieg, dass ihnen in der ukrainischen Kriegsgefangenschaft Gewalt drohe.
„Die ukrainischen Kriegsgefangenenlager sind bereit, Soldaten aller Nationalitäten, Religionen und ideologischen Ansichten aufzunehmen“, behauptet die ukrainische Stelle auf Telegram. Es gibt eine Telefonnummer, auch für den Kontakt per WhatsApp. Ein Chatbot steht ebenfalls bereit.
Doch wie ergibt man sich eigentlich auf dem Schlachtfeld? Auch dazu hat „Ich will leben“ Informationen im Internet veröffentlicht. Es sind „Anweisungen“ für alle, die „nicht kämpfen und Zivilisten töten wollen“. Dazu gehöre, die Waffe mit dem Lauf nach unten an die linke Schulter zu hängen. Die Arme sollen gehoben werden und man soll „Ich ergebe mich“ rufen, mit einer weißen Fahne in der Hand. Irgendein Stück weißer Stoff tut es aber wohl auch.
Von Tobias Mayer
Das Original zu diesem Beitrag "„Drei Mahlzeiten am Tag“: Wie die Ukraine Nordkoreaner zur Aufgabe überreden will" stammt von Tagesspiegel.