Verlieren sie das Momentum? Schwung der russischen Offensive im Ukraine-Krieg lässt offenbar nach
Russlands Offensive läuft seit Monaten, doch jetzt scheint der Vormarsch zu stocken. Experten sehen Moskaus Streitkräfte in einer schwierigen Lage.
Kiew – Russland versucht, die ukrainische Luftabwehr zu überlasten. In der Nacht von Samstag (28. Juni) auf Sonntag führte Moskaus Armee mit über 500 Drohnen und Raketen den größten kombinierten Angriff seit Beginn des Ukraine-Kriegs durch. Die russische Offensive am Boden zeigt aus Sicht von Militärexperten allerdings inzwischen deutliche Anzeichen von Erschöpfung. Offenbar hat Moskau aber bereits einen Plan.
Russlands Offensive stockt: Experten sehen das Momentum schwinden
Die russische Offensive läuft „spätestens seit der Einnahme von Awdijiwka im Februar“, wie der frühere Nato-General Erhard Bühler in seinem Podcast „Was tun, Herr General?“ betonte. Zuletzt hatte Russland insbesondere in der ostukrainischen Region Donezk seine schnellsten Geländegewinne seit Monaten erzielt. Im Mai haben russische Streitkräfte im Durchschnitt 5,5 Quadratmeilen pro Tag erobert, berichtet das ukrainische Analyseprojekt DeepState – und damit doppelt so viel wie im April.
Nun scheint die russische Armee das Momentum zu verlieren, kommentierte Angelica Evans, Russland-Analystin am Institute for the Study of War (ISW), gegenüber The Telegraph. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Olexander Syrskyj, teilte vergangene Woche auf Telegram mit, das ukrainische Militär habe die russische Offensive im Gebiet Sumy im Nordosten des Landes gestoppt. Man habe die Versuche einer „Sommeroffensive“ auf die gleiche Weise abgewürgt wie im vergangenen Jahr die Angriffsversuche auf die Region Charkiw, so Syrskyj weiter.
Diesen Erfolg will die Ukraine nun offenbar konsolidieren: Um die Verteidigung in der Region Sumy zu stärken, wurde unter der Leitung von Brigadegeneral Oleh Apostol eine neue Einheit gebildet. Die wichtigsten Aufgaben: Befestigungen ausbauen, Hindernisse errichten und die Bevölkerung auf mögliche Angriffe vorbereiten. Das Hauptziel Russlands liegt laut dem ukrainischen Militäranalysten Pavlo Narozhny in der Region Junakiwka. Sollte die Einnahme gelingen, wäre das eine „Katastrophe“, da der angrenzende Wald direkt an die Stadt Sumy heranführe, wie Naroszhny dem Telegraph sagte. Dann könnte Artillerie Sumy erreichen.
Ukraine-Krieg: Kämpft Moskau an zu vielen Fronten?
Russland habe „sich auf den sogenannten ukrainischen Festungsgürtel konzentriert, zu dem Kramatorsk, Kostjantyniwka und Slowjansk gehören“, erklärte die ISW-Analystin Evans. Moskau habe aber bislang nicht die nötigen Geländegewinne zur Einnahme dieser Städte erzielt, die Russland näher an die Kontrolle des gesamten Donbass bringen würden. Durch neue gleichzeitige Vorstöße in Sumy, Charkiw und Dnipropetrowsk, laufe Moskau nun Gefahr, seine Armee zu überdehnen, berichtete Kyiv Post unter Bezugnahme auf Analysten. „Die Russen befinden sich in einer schwierigen Lage, angesichts der Verluste, die sie erleiden“, so Nick Reynolds, Gefechtsfeld-Experte am Royal United Services Institute (RUSI).
Womöglich arbeitet der russische Präsident Wladimir Putin bereits an einer Lösung: Nordkorea und Russland prüfen derzeit die Entsendung weiterer nordkoreanischer Truppen in die Ukraine. Das geht aus einem ISW-Bericht von vergangener Woche hervor. Sollte dies geschehen, könnte es Russlands Möglichkeit stärken, mehrere Offensiven gleichzeitig durchzuführen – und Russlands bisherige Schwäche ausgleichen, analysieren die Militärexperten. Bislang hatte Russland laut ISW versucht, dies durch kleinere, begrenzte Angriffe an verschiedenen Fronten zu kompensieren.
Derzeit würden russische Truppen aber in mindestens drei größeren Offensiven bei Borowa-Lyman, Kostjantyniwka und Nowopawliwka vorrücken. Es sei „nicht möglich, die wahrscheinlichen Auswirkungen einer solchen nordkoreanischen Unterstützung einzuschätzen, da Informationen über die Größe und Zusammensetzung des nordkoreanischen Truppenkontingents fehlen“, so die ISW-Analyse. Ebenso sei unklar, wie schnell die nordkoreanischen Truppen in der Ukraine einsatzbereit wären.