Rätsel um Wahlkampfstrategie - Wo ist Merz? Die Union ist gespalten – und ein heikler Vergleich drängt sich auf

Läuft man dieser Tage die Fußgängerzone von Brilon im Sauerland hinauf in Richtung des Geburtshauses von Friedrich Merz, kommt man an allerlei Wahlplakaten vorbei. Da der schwarz-weiße Christian Lindner mit FDP-Botschaften in großen Lettern. Dort der ernst dreinschauende Grüne Robert Habeck, der mit nur einem Wort "Zuversicht" predigt. Dahinter Olaf Scholz vor einer für die SPD ungewöhnlichen Deutschlandflagge. Nur die Merz-Plakate fallen nicht so richtig auf.

Das Bild des CDU-Kanzlerkandidaten wirkt wie ein dröges Bewerbungsfoto, der Hintergrund ist blass. In Brilon reicht das vielleicht: der bloße Hinweis, dass da einer von ihnen zur Wahl steht. Doch abseits von Merz‘ Heimatstadt muss die CDU hart um die Aufmerksamkeit der Wähler kämpfen. Schaut man auf die jüngsten Umfragen, gelingt das begrenzt. Schon in zweien hat die Union die 30-Prozent-Marke unterschritten.

Für manche in CDU wie auch CSU ist das ein Alarmsignal. Denn in den vergangenen Monaten stand man schon einmal besser da, schielte sogar in Richtung 40 Prozent. Merz galt vielen gesetzt als künftiger Kanzler, es ging nur noch um das genaue Ergebnis. Doch jetzt realisieren viele in der Union: Der Wahlkampf ist kein Selbstläufer. Stürzt die Partei ab, sind vielleicht nicht die Kanzler-Ambitionen in Gefahr, wohl aber eine gute Ausgangsposition in Koalitionsverhandlungen und zahlreiche Bundestagsmandate.

Optimisten sehen bessere Voraussetzungen als 2021

Für die dürftigen Umfragewerte kursieren allerlei Erklärungen. Die gängigste: Der Wahlkampf beginne erst jetzt richtig, es könne sich noch viel verändern. Das ist nicht falsch, aber klingt auch wie eine Floskel der Verzweifelten und der bedingungslosen Optimisten. Auch von SPD und Grünen, die beide unter 20 Prozent verharren, ist sie im Moment häufiger zu hören. 

Die optimistischeren in der CDU pochen trotzdem darauf, dass die Grundvoraussetzungen in diesem Wahlkampf besser seien als 2021. Auch damals haben sich die Umfrageergebnisse der Union noch bewegt – mit Armin Laschet aber steil nach unten. Der Kanzlerkandidat konnte nicht mit CSU-Chef Markus Söder, die CDU war in sich gespalten, die Basis wahlkämpfte nur halbherzig. 

In diesem Jahr hingegen empfängt Merz den CSU-Chef in seiner Heimatstadt, der Kanzlerkandidat hat seine Partei in ihrer Abneigung gegen die gescheiterte Ampelkoalition geeint, die Basis hängt fleißig Plakate auf. Die Optimisten verweisen dann gerne auf die Umfragen des Allensbach Instituts. Dort lag die Union im Dezember bei 36 Prozent. Allerdings sind die Umfragen aus diesem Haus bekannt dafür, die Unions-Werte tendenziell eher zu überschätzen.

Wahlkampagne der Union fängt Merz‘ Schwächen nicht auf

Nach 36 Prozent würde sich der Wahlkampf derzeit nicht anfühlen, entgegen diejenigen, die die Lage ernster bewerten. Sie glauben, dass eher die 29 Prozent von Insa oder die 28 Prozent von Yougov der Realität entsprechen. Und auch unabhänigig von diesen beiden Einzelumfragen, der negative Trend scheint sich zu bestätigen. Und der hat, zumindest teilweise, auch mit Kanzlerkandidat Merz zu tun. 

Zum einen sind da die bekannten Schwächen des Politikers. Bei Frauen und jungen Menschen kommen andere Kandidaten besser an. Merz haftet zudem das Bild eines Technokraten an. Das habe man eingepreist, als er Kandidat wurde, heißt es dann in der Union. Die Wahlkampagne versucht aber auch nicht, das aufzufangen, wie man zum Beispiel an den Wahlplakaten sieht.

„Eigene Inhalte von Merz und der CDU fallen mir nicht auf“

Merz‘ Wahlkampfauftritt zusammen mit Söder in Brilon wäre die Chance gewesen, das Private etwas mehr nach außen zu kehren. Der Kanzlerkandidat hätte seine Frau auf die Bühne in der Schützenhalle holen oder private Anekdoten aus seiner Jugend im Sauerland erzählen können. Letzteres hat Merz zumindest versucht. Er erklärte dann aber reichlich abstrakt, er habe an den Anfang der Briloner Schützenfeste mehr Erinnerungen als an deren Ende. 

Eine Gruppe Jungwähler, die mit Bier in der Hand zuhörte, fühlte sich davon nicht abgeholt. Einer der jungen Männer bemängelt auch Merz‘ Auftritt in den sozialen Medien: „Wenn ich durch Instagram scrolle, sehe ich entweder Kritik an Merz – oder Söder, der wieder irgendwas isst. Aber eigene Inhalte von Merz und der CDU fallen mir nicht auf.“ 

Der hanseatisch kühle Olaf Scholz hat ein ähnliches Problem, war aber plötzlich bei den Jüngeren in aller Munde, weil er sich in die Internet-Show „World Wide Wohnzimmer“ setzte. Merz ist dort auch eingeladen, sperrt sich aber offenbar so sehr dagegen, dass die Macher der Sendung ihn bei X bloßstellten: „Trauen Sie sich zu uns in die Show. Falls nicht, sollen Ihnen für immer beim Händewaschen die Hemdärmel ins Wasser rutschen.“

Weichgespült statt zugespitzt

Vielleicht ist die Absage aber auch klug, weil Merz sich in so einer Gaga-Show zu sehr verbiegen müsste. Nur dann muss er sich auch in anderen Bereichen treu bleiben, sollte man meinen. Eigentlich ist der CDU-Chef als scharfer Rhetoriker bekannt, es darf bei ihm auch mal populistisch zugehen. Doch zuletzt wirkte Merz als Kanzlerkandidat seltsam weichgespült, wie auch Personen aus hochrangigen CDU-Kreisen bemängeln.

Auch in dieser Hinsicht wäre Brilon eine Chance gewesen: ein wohlwollendes Publikum, das in bierseliger Atmosphäre nach Pointen lechzt. Doch zum einen war da noch Markus Söder, der König der Bierzelt-Reden. Mit ihm mitzuhalten, wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Und zum anderen ist da die Merz-Strategie, möglichst staatsmännisch aufzutreten.

Söder langt hin und erhält dafür viel Applaus

Die Mischung aus Erwartungshaltung und Einschränkungen führte dann zu einer Rede, die weder richtig zuspitzend noch wirklich staatsmännisch war. Genauso gemischt wie die rhetorische Strategie war danach auch das Gefühl der Zuschauer. Wirklich begeistert war vor allem Markus Söder, der tags darauf im CSU-Vorstand von viel Applaus für sich berichten konnte und Parallelen zu Franz-Josef Strauß zog.

Etwas mehr Strauß würde auch Merz ganz guttun, glauben manche in der Union. Einer seiner alten politischen Freunde, der in Brilon dabei war, hat ihn nach eigener Aussage sogar schon mehrfach dazu ermuntert, wieder härtere Angriffe auf die Konkurrenz zu fahren. Und andere erklären, dass sie zwar verstehen würden, dass Merz mit Rücksicht auf potenzielle Koalitionspartner nicht ganz so hinlangen könne wie Söder. Aber zu viel Rücksicht sei tödlich, man dürfe doch wohl klarmachen, was bei SPD und Grünen in den vergangenen Jahren schiefgegangen sei. 

Die Defensive liegt Merz nicht – deshalb will er Risiken vermeiden

Doch es gibt in der CDU noch ein zweites Lager, das nicht ins Risiko gehen will. Schmerzlich bewusst ist diesen Leuten, dass Merz schon oft übers Ziel hinausgeschossen ist und sich plötzlich in der Defensive wiederfand – eine Position, die ihm nicht liegt. Stattdessen heißt die Taktik: Möglichst stillhalten, dann kann Merz auch wenig Fehler machen. So könne man die zumindest Umfragewerte halten, was für die Kanzlerschaft wohl völlig ausreichen würde.

Die Risiko-Vermeider wollen Merz‘ Besonnenheit in den Vordergrund rücken. Gerne wird dann mal erzählt, dass der CDU-Chef so ausgeglichen sei, dass er auf seinen Wandertouren das Handy auch einfach mal zu Hause lassen würde. Tiefenentspannt statt getrieben: Das hört sich doch nach Kanzler-Material an.

Eher entspannt geht das Merz-Team auch die Wahlkampftour an. 14 Termine sind derzeit angesetzt, zwischen ihnen liegen auch mal vier Tage Pause. Hinzu kommen zwar weitere Veranstaltungen, aber eher im kleinen Kreis zum Beipsiel vor Unternehmern. Zum Vergleich: FDP-Chef Christian Lindner hat sich mehr als 70 Großauftritte vorgenommen, absolviert auch mal drei an einem Tag. 

Die Themen müssten der Union eigentlich in die Karten spielen

Aber auch abseits des Auftretens von Merz gibt die Wahlkampfstrategie Rätsel auf. Einerseits ist Migration laut Umfragen für einen großen Teil der Wähler das drängendste Thema. Entsprechend wagte Merz den umstrittenen Vorstoß, manchen kriminellen Doppelstaatlern den deutschen Pass zu entziehen. 

Andererseits hat die CDU-Führung den Kurs ausgegeben, das Thema nicht mehr so stark in den Fokus zu rücken. Entsprechend streifte Merz das Thema bei seinem Auftritt in Brilon nur. Er will stattdessen vor allem die Wirtschaftspolitik in den Vordergrund rücken. 

So oder so: Beides sind Themen, die aktuell sehr präsent sind und bei denen die Wähler der Union Kompetenz zuschreiben. Die derzeitigen Diskussionen über Wirtschaft und Migration müssten der CDU eigentlich in die Karten spielen. Manche in der Partei glauben, das werde nach der Vorstellung des Sofortprogramms Anfang Februar geschehen, bislang seien die eigenen Vorschläge einfach noch nicht ganz greifbar. Allerdings hat die Union in den vergangenen Monaten schon massig Papiere präsentiert.

Vor Bundestagswahl: Merz plötzlich auf Merkel-Kurs?

Zudem war Merz in einigen Fragen schon einmal klarer: Das kategorische Nein zu einer Reform der Schuldenbremse weichte er im vergangenen November auf. Und die Aussage, dass Russland den Terror gegen die ukrainische Bevölkerung binnen 24 Stunden beenden müsse, oder sonst binnen 24 Stunden die Reichweitenbegrenzungen der gelieferten Waffen aufgehoben würden, wollte er kurz darauf nicht mehr als Ultimatum verstanden wissen.

Das ist heikel für Merz. Die eigenen Positionen opportunistisch denen der Konkurrenten anzugleichen und im Ungefähren zu bleiben, erinnert ausgerechnet an Angela Merkel. Also an die Frau, an der sich Merz bis heute immer wieder abarbeitet und die vielen konservativen Wählern mittlerweile ein rotes Tuch ist.

Das Bild wird noch dadurch verstärkt, dass Merkel am vergangenen Wochenende in Merz‘ Heimat NRW einen Wahlkampfauftritt absolvierte. In der Union quittierte das mancher mit Kopfschütteln. Man sei sich doch eigentlich einig gewesen, mit dem Merkel-Kapitel abgeschlossen zu haben.

Große Gefahr: Die Wähler glauben nicht an einen Kurswechsel

Kleine Kursverschiebungen werden aber noch aus einem anderen Grund zum Problem: Sie befeuern das Gefühl, dass auch mit Merz keine echte 180-Grad-Wende möglich ist. Vielen Menschen wird in den kommenden Wochen klar werden, dass Merz nicht ohne Koalitionspartner regieren kann – möglicherweise braucht er sogar SPD und Grüne zusammen. Dass der Koalitionsvertrag dann nicht CDU pur sein wird, weiß jeder Erstwähler.

Den ein oder anderen Bürger könnte das dazu bewegen, die AfD zu wählen. Die wird zwar sicher nicht regieren, kann aber so auch viel leichter zu ihren radikalen Vorhaben stehen. Andere, für die die AfD nicht wählbar ist, werden am 23. Februar womöglich schlichtweg zu Hause bleiben. Wenn andere Parteien es gleichzeitig schaffen, ihre Sympathisanten zu mobilisieren, bedeutet das im Ergebnis ein schlechteres Unions-Ergebnis. 

Trump macht vor, was sich viele von Merz wünschen

Der Eindruck, dass sich auch mit einem Kanzler Merz nichts ändern würde, verstärkt sich durch die Geschehnisse auf der anderen Seite des Atlantiks: Das US-Wahlsystem mag anders sein als das deutsche, aber Präsident Donald Trump macht vor, was sich viele Konservative hierzulande insgeheim wünschen. Ein paar Unterschriften unter Dekrete, und schon ist ein Richtungswechsel in Migrations-, Wirtschafts- und Klimapolitik vollzogen.

Entsprechend versucht die Union jetzt den Menschen zu erklären: Nur wenn wir ein richtig starkes Wahlergebnis bekommen, können wir eure Wünsche erfüllen. Es ist ein schwaches Argument, mit dem Merz nun in die Wahlkampftour geht, denn es ist offensichtlich machttaktisch getrieben. 

Ob das als Wahlkampfschlager taugt, ist zweifelhaft. Denn auffallen wird Merz damit nicht. Die angepeilten 35 Prozent plus X in sind dann vielleicht noch in seiner Heimat Brilon drin – aber wohl kaum in ganz Deutschland.