„Die Gefahr ist nicht, dass Russland Europa überrennt“: Experte erklärt die Risiken nach dem Trump-Schock

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Ohne Trumps USA sieht sich Europa plötzlich allein Russlands Bedrohungen ausgesetzt. Ein Experte ordnet die Gefahrenlage für den Münchner Merkur ein.

Seit langen Jahren hatten die USA Europa gedrängt, mehr für die eigene Verteidigung zu tun. Weitgehend erfolglos. Nach der Abfuhr für Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus scheint der Kontinent aufgewacht. Und steht offenbar vor gigantischen Aufgaben. Nur ein kleines Zeichen der Aufregung ist der EU-Sondergipfel am Donnerstag. Aber wie schlimm ist die Lage wirklich – und was ist zu tun?

Trump lässt Europa bangen: Schwache Verteidigung könnte Putins Russland zum Angriff ermuntern

Ulf Steindl, österreichischer Experte für europäische Verteidigungspolitik, hält den „Schock“ angesichts von Donald Trumps neuem Kurs durchaus für gerechtfertigt. Gedankenspiele zu einen russischen Angriff auf EU-Länder binnen fünf Jahren nach Waffenstillstand im Ukraine-Krieg betrachtet der Wissenschaftler des „Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik“ auf Anfrage des Münchner Merkur aber mit gewisser Zurückhaltung.

Wladimir Putin bei einem Termin am Mittwoch.
Wladimir Putin bei einem Termin am Mittwoch. © IMAGO/Kristina Kormilitsyna

Wann es zu so einer Attacke kommen könnte, sei „von zu vielen Faktoren abhängig“, um eine genaue zeitliche Einschätzung zu treffen – und eher hilfreich um „die Ernsthaftigkeit der Lage“ aufzuzeigen, meint Steindl. Aber: Erklärtes Ziel des Kreml sei, die europäische Sicherheitsordnung und die kollektive Verteidigung aufzubrechen, ob die der Nato oder eines Alternativmodells. Einen hybriden oder konventionellen Angriff auf Mitgliedsstaaten könnte Russland dabei als „effektives Mittel“ sehen.

Steindl betont: „Die Gefahr ist nicht, dass Russland ganz Europa ‚überrennt‘, sondern in der eigenen Risikoabschätzung glaubt, einen ‚Fait Accompli‘ zum Beispiel im Baltikum schaffen zu können und die Abschreckung versagt.“ Eine scheinbar schwache Verteidigung könne Russland also zum Versuch ermutigen, einfach Tatsachen zu schaffen.

Putins Gefahr – und Trumps Abwendung: Was Europa jetzt tun muss

Und der Ausweg? „Europa muss klar signalisieren, dass es bereit ist, einem Angriff auch ohne die USA kollektiv militärisch zu begegnen“, erklärt Steindl. Dazu brauche es die nötigen Kapazitäten – und den Willen, sie auch einzusetzen.

Der Experte des Wiener Instituts sieht drei Komponenten: gemeinsame Aufrüstung, gemeinsame militärische Strukturen, „Vorwärtsstationierung von multinationalen Truppenkontingenten“. Heißt: Europa sollte schon weit vor einem hypothetischen Angriff aus Russland Truppen in gefährdete Regionen bringen. Dazu müsse es freilich noch wichtige Leistungen der USA ersetzen. Etwa beim Transport von Soldaten und Gerät.

Neue Lage für Europa: „Strategisch denken lernen“

Ursula von der Leyens Vorstoß für ein EU-Verteidigungspaket sei nur ein „erster Schritt“, meint Steindl. Es brauche langfristige Finanzierung, mehr Tempo bei dem Programm für die europäische Rüstungsindustrie, EDIP. Europa müsse auch unabhängiger bei Produktion und Lieferketten werden. Und wohl auch vom Quertreiber Viktor Orbán – auf Sicht sei wohl eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip der EU nötig. Oder ein Stimmrechtsentzug für Ungarn.

Ein weiterer zentraler Appell Steindls: Europa muss neu denken. „Zentral ist auch, dass die Europäer strategisches Denken (wieder) erlernen und die Praxis beenden, die eigene Perspektive auf andere Staaten zu projizieren.“ Es gehe nicht darum, von Russland oder den USA ein Einsehen zu fordern. Sondern um konkrete Pläne für alle Eventualitäten. „Wenn sich die USA völlig zurückziehen, können dann die Strukturen der NATO europäisiert oder neu aufgebaut werden? Sollten die US-Truppen von der Ostflanke des Bündnisses abziehen, welche westeuropäischen Staaten springen dann in die Bresche?“ (fn)

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