Gastbeitrag von Gabor Steingart - Fünf entscheidende Begriffe, um die neue Lage im US-Wahlkampf zu verstehen

82 Stunden nach dem Rücktritt von Joe Biden als Kandidat und 102 Tage vor der Präsidentschaftswahl sieht man klarer.

Erste Zahlen der Spendenkampagne von Kamala Harris liegen vor; das Team Trump hat auf die strategisch neue Lage reagiert; aktuelle Umfragen taxieren die Chancen der neuen Präsidentschaftskandidatin der Demokraten.

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Hier die fünf entscheidenden Begriffe, die bei der Einschätzung der neuen Lage behilflich sind:

# 1 The Double Haters

Wer? Das ist jenes Reservoir von Wählern, das mit beiden bisherigen Kandidaten hochgradig unzufrieden war. Es geht um Menschen, die Trump und Biden gleichzeitig „hassten“ und es den Parteien übel genommen haben, sie überhaupt vor diese Wahl gestellt zu haben.

Das Forschungsinstitut Pew Research Center schätzt die Anzahl dieser Menschen auf 25 Prozent der 244 Millionen Wahlberechtigten – also rund 61 Millionen Amerikaner.

Diese Patt-Situation hat sich jetzt aufgelöst. Trump muss die inhaltlich nicht gefestigten Wechselwähler – die sogenannten Swing Voters – erneut für sich gewinnen. Und Kamala Harris muss zeigen, dass sie eine Alternative zu Trump, aber kein weiblicher Joe Biden ist.

# 2 The Harris Honeymoon

Der schönste Moment in jeder Beziehung – auch in der politischen Beziehung zwischen Wähler und Kandidat – sind die Flitterwochen. Die Kandidatin Harris ist für Millionen Menschen ein unbeschriebenes Blatt, neu auf der großen Bühne und allein schon deshalb attraktiv.

Man kann alle seine Wünsche in sie hineinprojizieren. Noch hat sie nichts geleistet und nichts geliefert – vor allem auch keine Fehltritte. Die kommen in der Regel später.

Auf Social Media wird sie gefeiert wie ein Star. Die britische Pop-Ikone Charli XCX spricht sich für Harris aus, und ihr entsprechender X-Post zählt bereits 50 Millionen Aufrufe. Sei es Cardi B, Beyoncé oder Barbra Streisand, die Welt des Entertainments feiert sie. Der CNN-Moderator Van Jones beschreibt das Phänomen ihrer wundersamen Verwandlung vom Mauerblümchen des Joe Biden zur Ikone der Demokratie:

„Sie hat sich innerhalb von 24 Stunden von ‚cringe‘ in ‚cool‘ verwandelt, da eine ganze Generation all diese Inhalte aufgenommen und in diesen unglaublichen TikTok-Videos neu gemischt hat.“

Mit diesem medialen Rückenwind ist die Spendenkampagne für Harris gut angelaufen. Über hundert Millionen frische Dollar sind seit Sonntagabend auf dem Konto der Kampagne eingetroffen. Der Honeymoon zahlt sich aus.

# 3: The Freedom Coalition

In den ersten Meinungsumfragen nach ihrer Nominierung holt Harris auf. Unter dem Slogan „Freedom“ versucht sie eine Koalition zu schmieden, die das traditionelle Links-Rechts-Schema durchbricht und einen Gegenpol zum autoritären Charakter von Trump bildet.

Laut einer YouGov-Umfrage, der aktuellsten seit dem Rücktritt von Joe Biden, liegt Donald Trump insgesamt drei Prozentpunkte vor Kamala Harris. Aber in den für ihn schwierigen Zielgruppen, also bei Frauen, Schwarzen und Hispanos, kann sie punkten. Auch bei jungen Wählern liegt sie vorn.

# 4: The Biden Factor

Die Tatsache, dass sie eben noch die Stellvertreterin von Biden war, macht sie für das Trump-Lager zur Zielscheibe. Alle Vorhaltungen, die den Noch-Präsidenten betrafen, werden nun an sie weitergereicht: die hohe Inflation, das geringe Wirtschaftswachstum und insbesondere der Anstieg der illegalen Migration. Denn die Zuwanderung war in der Arbeitsteilung mit dem Präsidenten ihr Thema.

Sekunden vor dem Attentat ließ Trump noch verlauten, dass Biden verantwortlich für die Migration wäre („Er ist der schlechteste Präsident der amerikanischen Geschichte“).

Nach Bidens Rückzug versucht Trump sie nun als „Biden light“ zu porträtieren. Auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social schreibt er in der ihm eigenen Überheblichkeit:

„Die lügende Kamala Harris, die von Biden ernannte ‚Grenzzarin‘, die nie die Grenze besucht hat und deren Inkompetenz uns die schlechteste und gefährlichste Grenze der Welt beschert hat, hat absolut schreckliche Umfragewerte gegen einen feinen und brillanten jungen Mann namens Donald J. Trump!“

Auch bei seinem ersten Auftritt nach Bidens Rücktritt in Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina teilte Trump gegen Kamala Harris aus und bezeichnete sie als „ultraliberale treibende Kraft".

„Nun haben wir ein neues Opfer, das wir schlagen müssen: die lügnerische Kamala Harris. Sie wird unser Land zerstören, wenn sie jemals gewählt wird.“

#5: The Flip-flopping Candidate

2019 schien Kamala Harris schon einmal die perfekte Präsidentschaftskandidatin für die Demokraten zu sein: The new kid on the block. Intelligent, attraktiv, weiblich und als Kind von Einwanderern aus Indien und Jamaika multikulturell.

Sie wirkte, so schrieb es Damon Linker in „The Week“, als sei sie „in einem streng geheimen Hightech-Labor des Democratic National Committee gezüchtet worden“.

Ihre Kandidatur für die demokratische Nominierung des Jahres 2019 begann mit einer Welle der Begeisterung. Ihr durchschnittlicher Umfragewert hatte sich innerhalb von vier Wochen auf zwölf Prozent verdoppelt. Nachdem sie sich getraut hatte, Joe Biden in einer TV-Debatte zu attackieren, erreichte sie 15,2 Prozent.

Und dann? Ging ihr bereits die Puste aus.

Einen Monat später fiel sie auf zehn Prozent zurück. Anfang September 2019 lag sie bei sieben Prozent. Einen weiteren Monat später bei fünf Prozent. Die Euphorie war so schnell verflogen, wie sie gekommen war.

„Harris stolperte über ihre eigenen Füße“

Damon Linker von The Week zu den Gründen ihres Scheiterns: „Harris stolperte über ihre eigenen Füße, als sie versuchte, zu den widersprüchlichen Rhythmen der verschiedenen Fraktionen der Demokratischen Partei zu tanzen. Sie wollte allen gefallen und gefiel am Ende kaum jemandem.“

Mal trat sie als Kandidatin der Mitte auf, um dann wieder den Sozialisten Bernie Sanders links zu überholen. Ihr Markenzeichen als ehemals gestrenge Oberstaatsanwältin von Kalifornien hätte Law and Order sein können. Aber sie verleugnete sich. Sie sei nicht „tough on crime“, sondern „smart on crime“.

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Plötzlich saß sie zwischen allen Stühlen. Bei einem Zustimmungswert von 3,4 Prozent unter Demokraten verließ sie im Dezember 2019 frustriert noch vor der ersten Abstimmung in Iowa das Rennen. Hätte Biden sie nicht auf sein Ticket geholt, wäre sie in der Versenkung verschwunden.

Fazit: Vor unseren Augen wird Geschichte geschrieben. Trump wirkt nach dem Attentat wie neu geboren. Aber die demokratische Kandidatur erlebt in diesen Stunden ebenfalls eine Wiederauferstehung. Oder wie ein aufgekratzter Boxpromoter Don King bei der Amtseinführung von Barack Obama ausrief: Only America! Only America!