Kurz vor Bundestagswahl - ZDF-Wahl-Chef über deutsches Dilemma: "Egal bei was, wir sehen immer zwei Blöcke"
Seit August 2024 sind Sie nicht nur Chef des "heute journals", sondern Sie präsentieren auch das Politbarometer im Zweiten. Mit der US-Wahl und den Landtagswahlen hatten sie schon Ihre Feuertaufen. Ist die Bundestagswahl trotzdem noch einmal neue Herausforderung?
Stefan Leifert: Ja, schon. Für einen Politikjournalisten und jemanden, der die Zahlen einer Wahl präsentiert, ist die Bundestagswahl das Hochamt. Ähnlich wie für einen Sportjournalisten wahrscheinlich die Fußball-Weltmeisterschaft. Das macht es interessant, aber zugleich auch zu einer echten Herausforderung, wenn es darum geht, den Überblick zu behalten.
Wie bereiten Sie sich mit Ihrem Team auf den Tag vor - insbesondere auf mögliche Überraschungen?
Leifert: Die Forschungsgruppe Wahlen hat jahrzehntelange Routine, auf die man sich verlassen kann. In den vergangenen Jahren haben sie keine großen Fehler gemacht und waren immer relativ nah am Endergebnis, mal mit mehr, mal mit weniger Abstand. Daran entscheidet es sich.
Hat sich im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahren auch am Umgang mit den Zahlen etwas geändert?
Leifert: Ja, das Instrumentarium muss immer wieder angepasst werden. Die Anhängerschaft von Parteien vor allem am rechten Rand verweigert häufiger die Teilnahme an Umfragen oder gibt keine oder eine andere Auskunft über ihre Wahlabsicht. Das wird im Modell für die Projektion, also die Sonntagsfrage, oder auch für die Prognose am Wahlabend berücksichtigt. Das Verhalten bei der Beantwortung von Umfragen kann also ein anderes sein als in der Wahlkabine. Das richtig einzuschätzen, macht die Kunst und das Handwerk der Demoskopen aus.
"Der Wählermarkt ist volatiler geworden"
Für wie wahrscheinlich halten Sie eine überraschend große Abweichung von allen Umfragen am Wahltag?
Leifert: Nicht für sehr wahrscheinlich, dafür ist die Lage seit Wochen und Monaten zu stabil, die Lager haben sich verfestigt. Aber nach den Wochen eines Schlafwagen-Wahlkampfes ist durch das schreckliche Ereignis von Aschaffenburg noch einmal politische Bewegung entstanden, die sich in Zahlen in der Wahlkabine ausdrücken kann. Seither haben wir einen offeneren Wahlkampf als in den Wochen zuvor. Es gibt ein emotional sehr aufgeladenes Thema, zu dem sich alle Akteure und Parteien verhalten müssen. Und dieses Verhalten erscheint mir offen und nicht ritualisiert.
Wie groß ist der Einfluss von einzelnen Ereignissen, Katastrophen und Taten wie jener in Aschaffenburg grundsätzlich auf das Wählerverhalten - auch im Vergleich zu früheren Wahlen?
Leifert: Auf Zahlen gestützt kann man sagen: Das Wählerverhalten, der Wählermarkt ist volatiler geworden. Der Anteil der Stammwähler ist geringer geworden - und die Bereitschaft, seine Wahlpräferenz zu verändern und sich von einer Wahl zur nächsten umzuentscheiden, größer. Geschehnisse wie Hochwasser und Irakkrieg haben ja schon in der Vergangenheit gezeigt, dass punktuell einmalige Ereignisse Bewegung erzeugen können. Das kann immer passieren. Aber es ist selten, dass es kurz vor der Wahl ein großes Thema gibt, zu dem sich alle verhalten müssen - und von dem viele Menschen wahrscheinlich ihre Wahlentscheidung abhängig machen.
"Egal bei welcher Frage, sei es zu Parteien oder Themen, wir sehen immer diese zwei Blöcke"
Oft ist die Rede davon, dass Umfragen und bestimmte Meldungen das Wählerverhalten beeinflussen können. Welche Verantwortung tragen die Medien in diesem Wahlkampf dahingehend?
Leifert: Die Frage nach der medialen Verantwortung im Blick auf die Demoskopie ist total berechtigt. Ich frage mich auch oft: Verursachen oder verstärken wir nicht Stimmungen mit - statt sie nur zu messen? Wir haben genau das auch schon abgefragt: Etwa 20 Prozent der Befragten sagen, dass demoskopische Umfragen ihr Wahlverhalten beeinflussen würden. Das ist nicht wenig. Man muss sich der Verantwortung vor der Wahl bewusst sein. Das sollte aber nicht dazu führen, die Umfragen sein zu lassen, sondern mit den Deutungen vorsichtiger umzugehen.
Worauf genau sollte man achten?
Leifert: Man sollte vermeiden, jede Umfrage mit "Umfragehammer" oder "Partei XY knallt runter" zu überschreiben. Da suggeriert man Verschiebungen, die so gar nicht stattfinden. In der Regel reden wir von Verschiebungen von einem bis drei Prozentpünktchen. Das sind selten Erdrutschbewegungen, auch wenn das manche Medien so suggerieren. Was wir journalistisch daraus machen, klingt vielleicht nicht so spektakulär, entspricht aber dem Verständnis von Wahlumfragen, mit dem wir arbeiten.
"Wir stellen fest, dass die Fronten verhärtet sind"
Ist diese Verantwortung umso größer angesichts einer von vielen diagnostizierten, bislang nicht gekannten Polarisierung in diesem Wahlkampf?
Leifert: Die Polarisierung messen wir auch. Man sieht das daran, dass man egal bei welcher Frage, sei es zu Parteien oder Themen, immer diese zwei Blöcke sieht: ein linkes und ein bürgerlich-rechtes Lager, bei denen es jeweils nur innerhalb zu Verschiebungen kommt. Fragt man nach den Kanzlerkandidaten Merz und Habeck, schart sich das gesamte linksliberale Spektrum hinter Habeck, das andere hinter Merz. Fragt man nach Merz und Scholz, ist es ähnlich. Auch bei Sachthemen gibt es diese Polarisierung: Wir stellen fest, dass die Fronten verhärtet sind.
Von Maximilian Haase
Das Original zu diesem Beitrag ""heute journal"-Chef Stefan Leifert: "Man muss sich der Verantwortung vor der Wahl bewusst sein"" stammt von teleschau.