Ämter überlastet, Experten rar - Berlin gibt Autist Raphael keinen Schulplatz - Familie kämpft gegen überfordertes System

 

Die ärztliche Diagnose, frühkindlicher Autismus, lag erst im Mai vor. Und ohne die, so Ackermann, ging gar nichts. „Ich selbst habe im Verlauf des Jahres etliche Dutzend Schulen angeschrieben. Bis heute haben wir keinen passenden Platz für Raphael gefunden.“ Hinzukommt, dass die ärztliche Diagnose nicht ausreichte, so Ackermann, sondern der Sibuz diese erneut prüfen musste, um den Förderschwerpunkt zu bestätigen.

Regierung: „Sind auf gutem Weg“

Zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems hat sich Deutschland 2009 mit dem Beitritt zur UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Das jüngste Maßnahmenpapier legte die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dazu im Frühjahr 2023 vor. Darin werden jedoch weniger konkrete Umsetzungen empfohlen, sondern man verwies auf länderübergreifende Empfehlungen der Kultusministerkonferenz.

Ende August musste die Bundesregierung dann bei den UN einen Rechenschaftsbericht über die Fortschritte beim Ausbau der Inklusion abgeben. Das Land, so der Tenor des Berichts, sei auf dem richtigen Weg.

Eine unabhängige Parallelstudie jedoch kommt zu einer deutlich kritischeren Einschätzung. Darin heißt es zum Beispiel, dass Deutschland noch immer von einem ausdifferenzierten System von Förderschulen für Kinder mit Behinderungen geprägt sei, schlussfolgert das „Deutsche Institut für Menschenrechte“. Und stellt nüchtern fest: „Eine Transformation hin zu einem inklusiven Schulsystem findet nicht statt.“

Im Bundesdurchschnitt würden noch immer mehr als die Hälfte aller hilfsbedürftigen Schülerinnen und Schüler an Förderschulen unterrichtet, moniert der Bericht. In einigen Bundesländern sei der Anteil von Kindern an Förderschulen sogar ansteigend. Außer in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen gebe es zudem nirgendwo einen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung und angemessene Vorkehrungen.

Bildungsverband: „Mangelhafte Ausgestaltung gefährdet Inklusion an Schulen“

Der „Verband Bildung und Erziehung“ (VBE) kommt in seinem „Schulbarometer“ Ende September dann sogar zu dem Schluss, dass „die mangelhafte Ausgestaltung die Inklusion an deutschen Schulen gefährdet“. Es sei „erschreckend“, dass sich nicht einmal jede zehnte neu ausgebildete Lehrkraft „gut auf eine inklusive Beschulung vorbereitet fühlt“. Neben einer dringenden Nachbesserung der Ausbildungsinhalte fordert der VBE „deutlich mehr Sonderpädagoginnen und -pädagogen, um eine zunehmende Zahl von Kindern mit Förderbedarf angemessen auffangen zu können“.

Zu wenige Lehrer, Platz und Fachkräfte in Berlin

Die Schulen der Bundeshauptstadt stehen allein durch den starken Bevölkerungszuwachs unter einem enormen Druck. Gab es im Schuljahr 2013/14 rund 293.000 Schulkinder in Berlin, waren es im Schuljahr 2022/23 schon knapp 348.000, was einem Zuwachs von knapp 19 Prozent entspricht. Diese Zahl könnte sich in den nächsten neun Jahren nochmals um 25.000 erhöhen, was zu einem zusätzlichen Bedarf von 2000 Lehrern führen würde. Es fehlen aber schon jetzt 1460 Lehrer.

Und auch beim Platzbedarf sieht es schon für Schüler ohne physische oder psychische Einschränkungen nicht rosig aus. Zwar hat der seinerzeit rot-rot-grüne Senat 2018 den Bau von 60 neuen Schulen plus die Sanierung und der Teil-Erweiterung aller bestehenden Schulen bis 2027 beschlossen. Doch obwohl seit dem Start der Offensive schon 25.000 neue Plätze geschaffen worden sein sollen, wächst der Bedarf an neuen Plätzen längst schneller als der Ausbau.

Senat lobt „1:1-Betreuung“ für komplizierte Fälle

Wo und in welchem Ausmaß genau es in Berlin mit der Inklusion denn nicht läuft und warum, wollte die Senatsverwaltung für Jugend, Bildung und Erziehung auf eine Anfrage von FOCUS online nicht darlegen. Stattdessen verwies ein Sprecher, der auf den Fall Raphael hingewiesen wurde, unter anderem darauf, dass die Integrationsquote für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf von 49 Prozent im Jahr 2011 doch „ganz ordentlich“ sei – und auf 72 Prozent im Jahr 2023 gestiegen.

Zudem habe die Senatsverwaltung „seit einigen Jahren“ die „besondere individuelle Unterstützung“ für Kinder und Jugendliche mit „maximalem Unterstützungsbedarf“ beschlossen. In Kooperation mit den Jugendämtern gäbe es „personenbezogene 1:1-Betreuungen“ zur schulischen Förderung für Schüler, für die andere intensivpädagogische Angebote nicht wirksam gewesen seien.

Raphael hätte 1:1-Betreuung nötig, bekommt sie aber in Berlin nicht

Was er nicht sagt: Im Bezirk Spandau zum Beispiel, wo Raphael und auch sein Bruder Gabriel zunächst zur Schule gingen, scheint das gar nicht gut zu klappen. Und dies, obwohl das dortige Sibuz wie auch das Bezirks-Schulamt schon direkt nach dem Ende der Weihnachtsferien mehrfach auf Raphaels Rauswurf hingewiesen wurden, sagt seine Mutter.„Die Schulen haben in der Regel viel zu viele Kinder in den Klassen, als dass ein Einzelfallhelfer sich um Raphael dort kümmern könnte. Für ihn brauche ich ein Therapietier, eine personenbezogene 1:1-Betreuung. Doch die haben wir bis heute nicht bekommen.“ Eine Anfrage von FOCUS online an die Leitung des Sibuz Spandau zu dem Fall Raphael blieb unbeantwortet.

Berlin hat es nach einem Jahr nicht geschafft, Schulplatz für Raphael zu finden

Raphael bekommt seit Beginn des neuen Schuljahres einen dreistündigen Einzelunterricht. Allerdings nur an zwei Tagen in der Woche und an zwei verschiedenen Standorten, organisiert vom Sibuz Charlottenburg, das seit dem Sommer inzwischen für Raphael zuständig ist.

Seine Mutter fährt ihn zum Einzelunterricht hin und holt ihn auch wieder ab. Zusätzlich bringt sie Raphael zum Schach- und Gitarrenunterricht und zur Ergotherapie. Hinzu kommen die Kita-Transporte der beiden Töchter Amara (5) und Seraphina (4) in Moabit. Während Raphael Pflegestufe 2 zugeteilt wurde, hat Seraphina bereits die 3. Beide Mädchen müssen mehrmals die Woche zur Logo- und Ergotherapie. Und Gabriel, mit 14 Jahren der Älteste, geht seit dem Sommer auch nicht mehr zur Schule. „Es war die Gleiche, auf die Raphael ging, er wurde dort weggemobbt.“

Mutter musste zeitbedingt ihren Job in einem Bioladen aufgeben

Für einen Moment sah es zum Beginn des neuen Schuljahres Ende des Sommers so aus, als hätten die Ackermanns mit der Klax-Schule in Pankow eine Einrichtung gefunden, die Raphael und auch Gabriel genommen hätten. Eine Privatschule, die allein für Raphael 650 Euro gekostet hätte.

Doch das können sich Elke Ackermann und ihr Verlobter Johannes (43), die beide vom Bürgergeld leben, nicht leisten. Sie musste wegen der Schulsuche, dem Ärger mit den Behörden und dem enorm hohen organisatorischen Zusatzaufwand für die besonderen Bedürfnisse ihrer Kinder ihren Job als Verkäuferin in einem Bioladen aufgeben, seit Raphael der Schule verwiesen worden war. Und Johannes Ackermann ist berufsbedingt arbeitsunfähig.