Muschelschalen verraten jetzt, dass der Klima-Kipppunkt im Atlantik naht

Islandmuscheln gelten als die langlebigsten bekannten nicht-kolonialen Tiere der Welt. Die älteste entdeckte Muschel wurde 507 Jahre alt. In ihrer Schale sind Wachstumsringe eingelagert, ähnlich wie bei Bäumen. Diese Ringe enthalten Informationen über die Meeresbedingungen jedes einzelnen Jahres. Mittels chemischer und mikroskopischer Analysen war es den Forschern so möglich, die „natürlichen Archive“ zu nutzen, um Klimaveränderungen über Jahrhunderte hinweg zu rekonstruieren.

Forscher nutzen Muscheldaten zur Klimaanalyse

Wissenschaftler der Universität Exeter haben die Daten aus Island- (Arctica islandica) und Honigmuscheln (Glycymeris glycymeris) nun genutzt, um die Stabilität zweier zentraler Meeresströmungen zu untersuchen: der Atlantischen Meridionalen Umwälzströmung (Amoc) und dem Subpolarwirbel (SPG). Ihre Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlicht.  

Beide Systeme spielen eine Schlüsselrolle im globalen Klimageschehen:

  • Sie transportieren Wärme vom Äquator nach Norden.
  • Dadurch beeinflussen sie Temperaturen und Niederschlagsmuster weltweit.

Zwei Destabilisierungsphasen in 150 Jahren

Die Analyse der Muschelschalen zeigte, dass der Nordatlantik in den letzten 150 Jahren zwei Phasen deutlicher Destabilisierung erlebt hat:

  1. Frühes 20. Jahrhundert: In der Zeit vor den 1920er Jahren zeigte der subpolare Nordatlantik erste Anzeichen einer Destabilisierung. Diese Phase wird als Vorbote eines sogenannten „Regimewechsels” in der ozeanischen Zirkulation angesehen. Ein Regimewechsel beschreibt eine grundlegende Umstrukturierung in der Art und Weise, wie sich die ozeanischen Strömungen verhalten.
  2. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute: Die Daten zeigen eine zunehmende Instabilität im subpolaren Nordatlantik. Insbesondere der SPG scheint immer weniger in der Lage zu sein, sich nach Störungen zu erholen. Das bedeutet:
  • Die Strömungen werden unregelmäßiger.
  • Temperatur- und Salzgehaltsveränderungen dauern länger an und sind stärker ausgeprägt.
  • Das gesamte System verliert an Widerstandskraft.

Kritische Verlangsamung: Ein Frühwarnsignal

Die Forschenden identifizierten ein Phänomen namens „kritische Verlangsamung”, das typischerweise vor dem Erreichen eines Kipppunkts auftritt. Dabei erholt sich ein System nach Störungen immer langsamer, was auf eine abnehmende Stabilität hinweist. Diese Verlangsamung wurde sowohl in den Muschel-Daten als auch in Temperatur- und Salzgehaltsanalysen des Nordatlantiks festgestellt.

Professor Paul Halloran vom Global Systems Institute erklärt: „Wenn ein System stabil ist, gibt es zwar immer noch Schwankungen, aber normalerweise kehrt es nach einer Veränderung schnell wieder in den Normalzustand zurück. Wenn ein System instabil wird, erholt es sich nicht so schnell – und das könnte ein Zeichen dafür sein, dass ein Wendepunkt bevorsteht.“

Auswirkungen von Klima-Kipppunkten

Ein instabiles System wie im Falle der Atlantische Umwälzströmung könnte somit auch die Gefahr globaler Klima-Kipppunkte immer realer machen. Als Kipppunkt wird ein kritischer Schwellenwert bezeichnet, dessen Überschreiten dazu führt, dass ein Teil des Erdsystems in einen neuen Zustand kippt. 

Die Atlantische Umwälzströmung droht laut dem „Global Tipping Points Report 2025“ bei einer globalen Erwärmung von unter 2 Grad zusammenzubrechen. Das könnte in Nordwesteuropa strengere Winter bringen. Ein schwächer werdender Subpolarwirbel könnte gleichzeitig häufiger extreme Wetterereignisse im Nordatlantik auslösen.

Der erste Klima-Kipppunkt ist bereits in vollem Gange, denn große Teile von Korallenriffen haben den kritischen Schwellenwert erreicht. Die großflächige Verbreitung von Solarenergie und Elektrofahrzeugen sowie der Ausbau von Windkraft, Batteriespeichern und Wärmepumpen sei laut Forschern zwingend notwendig, um weitere Klima-Kipppunkte zu vermeiden.