Militärexperte Ralph D. Thiele im Interview - Nach Pager-Explosion: „Rückenmark und Nervenstränge der Hisbollah sind gekappt“
Also ein herber Schlag für die Hisbollah?
Thiele: Das ist desaströs. Nicht nur psychologisch, weil die Fragen aufkommen: Explodiere ich? Mein Kind? Meine Frau? Haben sie auch meine Handy-IP-Adresse? Wissen die Israelis, dass ich dazugehöre? Insbesondere die Funktionsfähigkeit der Miliz ist schwer getroffen. Deren Kommunikationsstränge befähigen zu schneller Reaktion und gezieltem Agieren.
Die Hisbollah und auch die Hamas nutzen eine Hit-and-run-Strategie: Raketen abfeuern und verschwinden, weil sie wissen, dass die Israelis kommen und ihre Abschussstellungen vernichten. Diese Geschwindigkeit muss orchestriert werden, und diese Fähigkeit ist jetzt zerstört. Die Hisbollah ist jetzt auf veraltete Kommunikationsmittel wie aus dem Mittelalter angewiesen. Brieftauben und reitende Boten lassen grüßen. Das ist sowohl psychologisch als auch funktional ein erheblicher Schlag.
Eskaliert jetzt der Nahost-Konflikt? „Ich bin von einem solchen Angriff nicht überzeugt“
Was folgt jetzt auf den israelischen Cyber-Doppelschlag gegen die Hisbollah? Kommt jetzt der große militärische Schlag?
Thiele: Ich bin von einem solchen Angriff nicht überzeugt. Einige sagen, es könnte nun eine militärische Lawine folgen, aber wenn das geplant gewesen wäre, hätte es sich angeboten, dies kurz vor oder nach den Explosionen zu tun. Der Effekt der aktuellen Attacken ist bereits ein erheblicher, wenn man bedenkt, dass eine Tätergruppe gezielt und im weiten Rahmen verletzt oder im Ausnahmefall auch getötet werden kann - bei dem ersten Angriff gab es neben den Toten allein 200 Verbrennungen dritten Grades und Amputationen.
„Wir bekommen hier einen Einblick in eine dystopische Zukunft“
Erleben wir gerade ein neues Zeitalter der Kriegsführung?
Thiele: Vieles der Vorbereitungsarbeit solcher Angriffe wird zunehmend durch Künstliche Intelligenz erledigt. Dadurch wird der Prozess dynamischer und schneller. Das heißt, nicht nur die Israelis werden solche Attacken ausführen können, sondern auch andere Akteure wie Russen, Chinesen und diverse Organisationen. Sie alle werden das hybride Spektrum nutzen. Staaten, Organisationen, Unternehmen, kleine Gruppen, Kriminelle, Terroristen und Individuen könnten solche Fähigkeiten entwickeln. Das ist die wichtige Lehre aus dieser Situation. Wir bekommen hier einen Einblick in eine dystopische Zukunft, wenn wir uns nicht dramatisch besser aufstellen, um solchen Bedrohungen begegnen zu können.
„Die Israelis sind bekannt dafür, in andere Organisationen hineinzukriechen“
Die massenhafte Präparation von Kommunikationsgeräten wurde offenbar durch einen von langer Hand geplanten und unter strengster Geheimhaltung durchgeführten Zugriff auf die Produktionslinien der Geräte ermöglicht. Wie kann man sich das im Detail vorstellen?
Thiele: Die Israelis sind bekannt dafür, in andere Organisationen hineinzukriechen. Das betrifft die Hamas, die Hisbollah, den Iran. Um an Informationen über die Hisbollah zu kommen, muss man also erst einmal Zugang zu der Organisation haben, um herauszufinden, worüber kommuniziert wird.
Wenn man weiß, dass eine Organisation aus Sicherheitsgründen Pager anschafft, muss man herausfinden, woher diese kommen. In diesem Fall kamen die Pager von einer Produktionsfirma, die in Taiwan ansässig ist, aber in Ungarn produziert.
Dann müssen die Netze in Taiwan und Ungarn ausgebreitet werden. Partnerdienste können dabei helfen; der israelische Geheimdienst ist sehr anerkannt und arbeitet ggf. auch mit den Diensten anderer Staaten zusammen, zum Beispiel durchaus auch mit deutschen Diensten. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Ungarn als Staat Israel einen Gefallen getan hat.
Und wie genau läuft die Präparation der Geräte ab?
Thiele: Ist die Produktionsstätte bekannt, muss nur noch ein Weg dort hineingefunden werden. Dies geschieht häufig über die Wertschöpfungskette, z.B. durch den Einbau von Sprengstoff in Gehäuseteile oder durch präparierte Bauteile, die z.B. direkt aus Sprengstoffmaterialien hergestellt und dann über den Zulieferer unbemerkt an die Produktionsstätte geschickt werden und von Mitarbeitern unwissend verbaut werden. Ein Impulsgeber, der mit dem Alarm des Pagers gekoppelt ist, löst die Sprengladung aus. So kann sichergestellt werden, dass die Geräte im entscheidenden Moment aktiviert werden.
„Solche Angriffe können Terror, Panik und Konfusion auslösen“
Was bedeutet das jetzt für Israels Erzfeind, den Iran?
Thiele: Diese Angriffe führen nicht nur zu massiver Verunsicherung innerhalb der Hisbollah, auch die iranischen Unterstützer, die als Mitplaner fungieren, werden tief verstört sein. Der iranische Botschafter hat offenbar auch einen Pager erhalten, was die Beweisführung der Verwicklung einmal mehr erleichtert. Die Iraner müssen sich nun fragen, welche ihrer Netzwerke sind noch infiltriert. Gleichzeitig mischen die Iraner in diesen Tagen im amerikanischen Wahlkampf mit, was zeigt, dass sie im Cyberbereich selbst gut aufgestellt sind.
Cyber-Angriffe wie die im Libanon haben ein enormes Chaos-Potenzial, auch, weil sie nur schwer zuzuordnen sind. Welche Gefahren kommen damit auf die Welt zu?
Thiele: Solche Angriffe können Terror, Panik und Konfusion auslösen, ohne dass klar ist, wer dahintersteckt. Das Prinzip der unklaren Zurechenbarkeit ist eine gängige Methode in der hybriden Kriegsführung.
Länder mit hohen Cyber-Kapazitäten, wie etwa China, mischen Informationskrieg, Desinformation und elektronische Kampfführung zu einem umfassenden Konzept. Diese Art von Kriegsführung wird sich ausbreiten! Um uns zu schützen, müssen wir viel professioneller mit Daten umgehen. Der Datenschutz darf uns nicht beim Schutz vor Missbrauch von Daten behindern. Dies ist entscheidend, um nicht Opfer hybrider Kampagnen zu werden.
„Diese Art von hybrider Kriegsführung wird sich ausbreiten“
Der Mossad ist bekannt für spektakuläre Aktionen. Die Pager- und Funkgerät-Bomben gehören jetzt dazu. Gab es schon mal eine vergleichbare Attacke?
Thiele: Tatsächlich gab es eine ähnliche Aktion im Zusammenhang mit den nuklearen Zentrifugen des Irans vor etwa 14 Jahren. Durch eine Cyberattacke wurden diese Zentrifugen zum Explodieren gebracht. Es war eine gemeinsame israelisch-amerikanische Aktion. Dabei wurden auch Wissenschaftler gezielt getötet. Das Sprengen der Zentrifugen war eine der ersten Anwendungen von Cyberkriegsführung in einem kinetischen Kontext. Dieser Fall zeigt, dass solche kinetischen Effekte durch Cyberangriffe schon seit langem experimentell bewiesen sind und nun zur Anwendung kommen.
Inwiefern könnte die aktuelle Attacke eine Rolle im Ukraine-Krieg spielen? Können wir Ähnliches dort erwarten?
Thiele: Der Krieg in der Ukraine hat viele Hightech-Themen neu aufgebracht. Zu Beginn gab es gleich zu Anfang einen hochwirksamen russischen Angriff auf Satellitensysteme, was zeigt, dass Cyberangriffe dort eine bedeutende Rolle spielen. Die Zusammenarbeit von Drohnen, Weltraum-Kommunikation und Künstlicher Intelligenz ist längst Standard in der modernen Kriegsführung, auch in der Ukraine. Die russische elektronische Kampfführung (ELOKA) hat zudem westliche Hightech-Systeme empfindlich in ihrer Präzision und Zuverlässigkeit gestört, was auch zeigt, dass beide Seiten solche Technologien intensiv nutzen.
Und diese Art von hybrider Kriegsführung wird sich ausbreiten. Der israelische Angriff ist nur ein Beispiel für die Anwendung solcher Technologien. In der Ukraine wird man das ganz genau beobachten.
Die Botschaft ist also klar: Technologien wie KI, Datenmanagement, Sensorik, Robotik, Cyber- und elektronische Kampfführung explodieren gerade und werden zunehmend angewendet. Das heißt für uns: Um nicht Opfer solcher hybriden Kampagnen zu werden, müssen wir technologisch mithalten und unser riesiges Know-how anwenden.