"Die Schuldenbremse wird an der Lebensrealität scheitern"
Das Bundesverfassungsgericht hat die Schuldenbremse verschärft – und damit eine Debatte über ihren Sinn ausgelöst. Der Ökonom Jens Südekum vertritt eine klare Haltung.
Nach dem Urteil aus Karlsruhe diskutiert das politische Berlin über den Sinn der Schuldenbremse. Die FDP frohlockt, will sie unbedingt in ihrer scharfen Form erhalten. Bei ihren Koalitionspartnern, der SPD und den Grünen, sehen das Instrument viele kritisch: Die Schuldenbremse, so sagen sie, sei nicht mehr zeitgemäß, weil sie dringend notwendige Investitionen in die Zukunft verhindere.
Der Ökonom Jens Südekum stützt diese Argumentation. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Düsseldorf, der auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) berät, findet: Die Schuldenbremse braucht Reformen. Wie die aussehen sollten und was er von der CDU erwartet, erklärt er im Interview mit t-online.
t-online: Herr Südekum, die Ampel muss ein 60-Milliarden-Euro-Loch stopfen. Was raten Sie der Regierung – Steuern erhöhen oder Ausgaben senken?
Jens Südekum: Ich denke, es braucht von beidem ein bisschen. Beim Klima- und Transformationsfonds könnte die Regierung jetzt noch einmal alle Projekte durchleuchten und sich fragen, was man davon wirklich braucht. Gleichzeitig ließen sich auch die Einnahmen erhöhen, zum Beispiel die CO2-Preise. Aber: Das alles wird nicht reichen.
Warum nicht?
Weil der Betrag schlicht zu groß ist. 60 Milliarden Euro können Sie nicht einfach so zusammenkratzen. Das ist extrem viel Geld. Mit Priorisieren allein ist es da nicht getan, da muss die Politik an einer ganz anderen Schraube drehen.
Sie meinen den Auslöser des Urteils, die Schuldenbremse. Muss die Schuldenbremse weg?
Nein, sie muss nicht weg. Aber sie muss reformiert werden. Der Umbau unseres Landes wird enorme Summen verschlingen. Damit Deutschland bis 2045 klimaneutral wird, braucht es sehr viel Geld. Vor vier Jahren rechnete der Bund der Deutschen Industrie (BDI) vor, dass knapp 900 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen nötig seien. Inzwischen, mit dem Eintreten der Energiekrise, dürften es wohl eher 1,5 Billionen Euro in den nächsten zehn Jahren sein. Wir müssen jetzt ehrlich darüber diskutieren, wie wir all das bezahlen wollen. Meine Überzeugung ist: Mit der Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form geht das nicht. Die Schuldenbremse wird an der Lebensrealität scheitern.
Die Schuldenbremse ist seit 2009 Teil des Grundgesetzes und besagt: Die "strukturelle" Neuverschuldung des Bundes, die von der Konjunktur abhängt, darf pro Jahr maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen. Ausnahmen können greifen, wenn – wie zuletzt im Falle der Corona-Pandemie – Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen auftreten. Die Idee: Künftige Generationen sollen durch Schulden von heute nicht übermäßig belastet werden. Das Urteil des Verfassungsgerichts hat die Schuldenbremse noch einmal verschärft.
Wie genau ließe sie sich denn reformieren?
Wir brauchen eine Rückkehr zur "goldenen Regel" der Finanzpolitik, präziser: eine "grün-goldene Regel".
Was genau meinen Sie damit?
Die goldene Regel sieht vor, Ausgaben für Zukunftsinvestitionen von der Schuldenbremse auszunehmen. Für alles andere, für eine Erhöhung des Bürgergeldes oder zusätzliche Mittel für die Renten, sollte die Schuldenbremse weiter gelten. Eine "grün-goldene" Regel hieße, dass mit derlei Investitionen vor allem jene gemeint wären, die uns auf dem Weg zur Klimaneutralität weiterbringen.
Die "goldene Regel" hat früher immer wieder dazu geführt, dass sich Regierungen für Investitionen verschulden, nur um damit indirekt dann doch sogenannte konsumtive Ausgaben zu ermöglichen, zum Beispiel die Mütterrente oder das Baukindergeld. Wie ließen sich solche Taschenspielertricks verhindern?
Dafür braucht es zunächst eine klare Definition, was solche Investitionen sind und was nicht. Im Detail müsste das die Politik klären. Ich selbst aber könnte mir im Sinne der "grün-goldenen Regel" zum Beispiel vorstellen, dass man damit Investitionen in die Elektromobilität abdecken könnte oder Industrie-Fördergelder für die Entwicklung von CO2-neutralem Stahl, aber auch die Förderung für den Heizungstausch, damit wir im Gebäudesektor Emissionen einsparen.
Und was wäre mit der Chipfabrik von Intel, die Wirtschaftsminister Robert Habeck mit Milliarden aus dem Klimafonds fördern will?
Das ist etwas anderes. Streng genommen geht es dabei ja nicht um Klimainvestition, sondern darum, weniger abhängig von China zu sein.
Aus der Ampel hört man jetzt schon den nächsten Haushaltstrick: Neue Schulden ließen sich einfach über staatliche Spezialfirmen aufnehmen, zum Beispiel über die Infrago AG, die neue Infrastrukturgesellschaft der Bahn. Was halten Sie davon?