Professor Siegbert Warwitz - Loses Mundwerk? So lernen Sie, Ihre innere Bremse zu trainieren
Der Experimentalpsychologe Professor Siegbert Warwitz berichtet aus seinen Versuchsreihen, welche Bedeutung der „Inneren Bremse“ für uns Menschen und speziell für Kinder im Verkehr zukommt und wie man ihr Funktionieren trainieren kann.
Das Problem des ungewollten Wortes
Haben wir das nicht bei uns selbst oder anderen schon einmal peinlich erlebt: Im Eifer des Redeflusses, bei einem Wutanfall entfährt uns ein Wort, eine flapsige Bemerkung, die wir besser nicht gemacht hätten. Man bereut sie gleich, nachdem sie über die Zunge ging, denn sie verrät schlagartig dem anderen unser wahres Denken, das wir in beherrschtem Zustand immer so diplomatisch verheimlichten.
Aber das „falsche Wort“, der unkontrolliert ausgesprochene Satz ist nicht mehr zurückzuholen. Er schlägt bei dem Gesprächspartner ein wie ein Blitz. Die Maske ist gefallen. Nachgeschobene Erklärungen, Entschuldigungen wirken gequält, hilflos.
Ungebremste Redseligkeit birgt zudem die Gefahr, mit seinem Wortschwall als eitler Schwätzer zu erscheinen: „Si tacuisses, philosophus mansisses“ (Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben) soll der römische Philosoph Boethius einem Möchtegern-Philosophen geantwortet haben, der sich wortreich von dem gelehrten Mann bestätigen lassen wollte, dass auch er ein weiser Mensch sei. Ohne seine verräterische Geschwätzigkeit hätte er ihm dies unaufgefordert zuerkannt.
Über den Experimentalpsychologen Siegbert Warwitz

Prof. Dr. phil. Siegbert A. Warwitz ist Germanist, Sportwissenschaftler, Experimentalpsychologe und Pädagoge. Im Rahmen seiner langjährigen Forschungs- und Lehrtätigkeit an einer wissenschaftlichen Hochschule beschäftigten ihn vor allem Phänomene der menschlichen Entwicklung und die Frage, welcher Einfluss dabei Faktoren wie Spiel, Abenteuer, Risiko und Wagnis zukommt. Dazu entwickelte er didaktische Modelle, wie man deren Impulse am besten in Bildungsprozessen einsetzt.
Das Problem der ungewollten Tat
Der Volksmund sagt, dass jemandem, der sich in einem Zornausbruch zu einem tätlichen Angriff auf ein störrisches Kind hinreißen lässt, „die Hand ausrutscht“. Diese Art des Strafens ersetzt keine Argumente, zumal die Pädagogik doch so viele sinnvollere Alternativen für Problemlösungen kennt. Es geht auch hier um Selbstdisziplin, darum, sich so „im Griff“ zu haben, dass man im Affekt keine Handlung begeht, die man anschließend zu bereuen hat, für die man, -in der Hoffnung auf Verzeihung-, dann demütig Abbitte leisten muss.
Die Frage kindlicher Bremsen
Ein weit verbreiteter Spruch der 1970er-Jahre, der vor allem die Verkehrserziehung stark beeinflusste, hieß: „Kinder haben keine Bremsen!“ Er bestimmte weithin das Denken und die Maßnahmen der „alten“ Verkehrserziehung. Kinder galten als „Mängelwesen“, die sich durch abrupte Spontaneität und wenig überlegtes Handeln charakterisierten.
Diese nicht weiter hinterfragte Behauptung führte bei den Erziehern zu der fatalistischen Fehleinschätzung „Da kann man nichts machen! Kinder sind halt so! Die volle Verantwortung für ihre Sicherheit muss bei den anderen, bei den erwachsenen Verkehrsteilnehmern liegen.“ Auch auf Seiten der Kinder bewirkte die entsprechende Plakatierung zu Schulbeginn die Vorstellung „Die Großen, die anderen, müssen auf uns aufpassen. Die haben die Verantwortung. Wir sind ja noch klein!“
Mich bewegte daraufhin die Frage, ob in einem sozialen Gefüge wie dem Verkehrsumgang nicht jeder, auch das Kind, nach seinen Möglichkeiten zu einem sicheren Verkehren beitragen kann und sollte und ob die These vom „bremsenlosen Kind“ wissenschaftlich überhaupt haltbar ist. So entstanden verschiedene experimentalpsychologische Versuchsreihen.
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Der Mensch als Lernwesen
Ausgangspunkt der Untersuchungen waren drei Hypothesen: Erstens: Niemand ist und bleibt einfach, wie er ist. Wir sind veränderbar, und das Kind ist ein Lernwesen. Zweitens: Wer Bewegungen spontan auszulösen vermag, kann sie (im Prinzip) auch abrupt beenden. Drittens: Es braucht eine persönliche Motivation, um Lernprozesse in Gang zu bringen.
Das Ergebnis unserer Experimente war eindeutig. Es brachte die Erkenntnis: „Schon Kinder verfügen über Bremsen. Sie müssen nur lernen, sie zu gebrauchen!“
Auch die Annahme, dass Kinder grundsätzlich langsamer reagieren als Erwachsene, konnte klar widerlegt werden. Noch Erwachsene zeigen ein unterschiedliches Reaktionsvermögen. Unsere Untersuchungen beweisen, dass entsprechend geschulte Sechs- bis Zehnjährige bei bestimmten Aufgaben sogar schneller und punktgenauer reagieren als ungeübte Erwachsene. Es handelt sich also weniger um eine Frage des Alters als des gezielten Trainings.
Erwachsene entziehen sich aufgrund ihres Status weitestgehend einer Fremderziehung. Bei ihnen muss bei Defiziten die Selbsterziehung greifen. Im Rahmen von professionell geleiteten gemeinsamen Rollenspielen mit Kindern, wobei Regelverstöße Pfandabgaben nach sich ziehen, können aber auch sie noch wichtige Denkimpulse mitnehmen: „Erst denken, dann reden und handeln, nicht umgekehrt.“ „Dreimal schlucken und zehnmal atmen vor einer Antwort auf ein unziemliches Verhalten.“
„Nicht gleich strafen, sondern sich und dem anderen eine Denkpause gönnen für eine mögliche Selbsteinsicht oder angemessene Reaktion.“ Solche didaktischen Regeln lernen Lehrer in ihrer Berufsausbildung. Sie können auch Eltern als Verhaltensmuster helfen.
"Verkehrserziehung vom Kinde aus: Wahrnehmen - Spielen - Denken - Handeln" von Siegbert A. Warwitz
Das Training der Inneren Bremse
Kinder lernen weniger über Belehrungen als über das Spielen. Es entspricht am besten ihrem Wesen, ihren Auffassungsmöglichkeiten, ihrer Motivlage. Dabei entwickeln sie mehr Selbstdisziplin als mancher Erwachsene ihnen zutraut. Das lässt sich leicht an zwei beliebten „Verkehrsspielen“ ausprobieren:
Das „Geh & Steh-Spiel“ ist ein Reiz-/Reaktionsspiel. Die Kinder formieren sich nebeneinander an einer vorgegebenen Linie. Im Abstand dazu positioniert sich an einer zweiten Linie der „Spielpolizist“, der mit einer Taschenlampe oder anderen Zeichengebern die Ampelsignale Rot, Gelb oder Grün aussendet. Es gilt, sich bei Grün raschestmöglich in Bewegung zu setzen und bei Rot sofort zum Stehen zu kommen. Wer sich bei einem Haltgebot noch bewegt, wird eine bestimmte Schrittzahl rückwärts verwiesen. Wer aber unter diesen Bedingungen als erster den Schutzmann erreicht, darf ihn als Signalgeber ablösen. Das Spiel lässt sich über verschiedene optische und akustische Signalvarianten abwechslungsreich und kurzweilig gestalten.
„Die Tabustraße“ ist ein am Boden markierter Straßenbereich, der unmittelbar an ein Spielfeld grenzt, auf dem ein lebhaftes Ballspiel stattfindet. Er darf im Eifer des Spielgeschehens nie betreten werden. Wenn der Ball aus dem Spielbereich gerät, darf er nur über eingezeichnete Übergänge und erst nach vorschriftsmäßiger Links-Rechts-Links-Absicherung überquert werden. Wächter simulieren gefährliche Fahrzeuge, indem sie Sünder gegen diese Vorgabe mit einem Ball abwerfen. Der auf diese Weise in einen „Verkehrsunfall“ Verwickelte muss in einem Außenbereich, der als „Krankenhaus“ ausgewiesen ist, bis zu seiner „Rehabilitation“ vom Spielgeschehen aussetzen.
Da die Teilnahme am Spiel hoch motivierend ist und ein zeitweiliger Spielausschluss eine gravierende Strafe bedeutet, findet sich schon nach kurzer Zeit kaum noch ein „Verunglückter“ im „Sanatorium“. Die Kinder lernen schnell, Spielgeschehen und Unfallgefährdung gleichzeitig im Blick zu behalten. Die Innere Bremse funktioniert. Und die Regeln werden als Teil des Spiels voll akzeptiert.
Der Lerntransfer
Für die Übertragung der im Spielbereich gelernten Bremsfertigkeit in den Realverkehr und in das Alltagsverhalten bedarf es allerdings weiterer Impulse wie das Bewusstwerden der Sinnhaftigkeit: Das Nachdenken lehrt, dass sicheres Autofahren nur in einem gekonnten Zusammenspiel von Gasgeben und Abbremsen gelingt.
Und wie der Reiter sein temperamentvolles Pferd über die Zügel einfängt, so hält der kluge Mensch seine Zunge bei einer verbalen Auseinandersetzung „im Zaum“. Er „zügelt“ seinen aufkommenden Unmut in einem Streitfall mit Hilfe der Inneren Bremse.
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