„Keine Erholung im zweiten Halbjahr“ – so kann Deutschlands Wirtschaft wieder in die Spur kommen

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Politische Aufbruchsrhetorik trifft auf harte Realität: Die Arbeitslosenzahl überschreitet erstmals seit zehn Jahren die 3-Millionen-Marke – auch Akademiker sind betroffen.

Berlin – Die deutsche Wirtschaft bleibt auch im Sommer 2025 ohne nennenswerten Schwung. Laut dem aktuellen Monatsbericht der Bundesbank für August ist für das dritte Quartal eine stagnierende Wirtschaftsleistung nicht auszuschließen. „Die trüben Aussichten für den Welthandel, die noch schwache Auftragslage und die niedrige Auslastung vorhandener Kapazitäten dürften die Investitionstätigkeit der Unternehmen weiter beeinträchtigen“, heißt es in dem Bericht.

Export-Schwäche belastet Wachstum erheblich: Chemieindustrie als Frühindikator sendet Warnsignale

Christian Hartel, CEO von Wacker Chemie, sieht keine Besserung für das zweite Halbjahr. „Wir und mit uns die gesamte Chemiebranche verzeichnen eine schwache Nachfrage. Wir sehen auch nicht, dass es im zweiten Halbjahr besser wird“, erklärte er gegenüber der Wirtschaftswoche. Als frühzyklische Branche gilt die Chemieindustrie als wichtiger Indikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.

Deutsche Unternehmen verlieren deutlich Marktanteile auf dem Weltmarkt. Laut der Bundesbank-Analyse sind die Exportmarktanteile seit 2017 rückläufig, besonders seit 2021 gerate Deutschland „ins Hintertreffen“ gegenüber anderen entwickelten Volkswirtschaften. Mehr als drei Viertel der Verluste zwischen 2021 und 2023 gehen auf mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zurück. Besonders betroffen sind Maschinenbau, Elektroindustrie und energieintensive Branchen wie die Chemieindustrie.

Deutsche Industrie schwächelt: Energiepreise und US-Zollpolitik verstärkt Unsicherheiten

Die volatile US-Handelspolitik belastet deutsche Unternehmen zusätzlich. Nach dem „Liberation Day“, an dem US-Präsident Trump seine Zollpläne präsentierte, sei der Markt „sehr volatil geworden“, so Hartel. Der im Juli vereinbarte EU-USA-Handelsdeal sieht 15 Prozent Zoll auf die meisten EU-Produkte vor, der seit dem 7. August gilt. Die Unsicherheit bleibe jedoch „angesichts noch offener Fragen und der sprunghaften US-Wirtschaftspolitik aber hoch“, warnt die Bundesbank.

Zudem schwächen hohe Energiekosten die deutsche Industrie nachhaltig. „Energie ist Wohlstand“, betont Wacker-Chef Hartel und fordert einen Industrie-Strompreis von vier Cent pro Kilowattstunde. „Das ist das Niveau, auf dem wir wettbewerbsfähig mit den USA und mit China sind. Das wäre ein Booster für die deutsche Wirtschaft“, erklärte er der Wirtschaftswoche.

Die deutsche Wirtschaft stagniert: Während die Arbeitslosenzahl auf über drei Millionen steigt, kämpfen Unternehmen mit schwacher Nachfrage und hohen Energiekosten. ©  IMAGO / greatif

Strukturwandel erschwert Jobsuche: Lösungsansätze für die Wirtschaftskrise

Der Arbeitsmarkt leidet unter einem fundamentalen Strukturwandel. Laut Bundesbank erschwert es der „starke Strukturwandel“ den Arbeitslosen, „in der angestammten Qualifikation und Branche eine neue Stelle zu finden“. Die Jobsuche dauere länger und immer mehr Betroffene müssten sich regional oder beruflich umorientieren.

Ausnahmen zeigen sich derzeit lediglich in der boomenden Rüstungsindustrie und der Pharmabranche. „Neben der Rüstungsindustrie ist die Pharmabranche die einzige Industrie, die derzeit Arbeitsplätze in Deutschland schafft“, erklärte Han Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Arzneimittelindustrie (VfA). Während Rüstungsproduzenten wie Rheinmetall sich vor Bewerbungen kaum retten können, entstanden in der Pharmaindustrie rund 15.000 neue Arbeitsplätze durch Milliarden-Investitionen internationaler Konzerne wie Roche, Sanofi oder Eli Lilly. Gleichzeitig plant Volkswagen bis 2030 den Abbau von 35.000 Stellen – ein Viertel der gesamten deutschen VW-Belegschaft.

Deutscher Arbeitsmarkt: Rüstung und Pharma als letzte Jobmotoren

Die Entwicklung findet sich auch in der deutschen Arbeitslosenquote wieder. Erstmals seit Februar 2015 ist die Arbeitslosenzahl in Deutschland auf über drei Millionen gestiegen. „Im August ist das eingetreten, was wir erwartet haben“, sagte Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit, gegenüber Handelsblatt. Die Arbeitslosenquote erhöhte sich um 0,1 Punkte auf 6,4 Prozent. Besonders dramatisch zeigt sich die Lage in der Industrie: 146.000 Stellen wurden gegenüber dem Vorjahr abgebaut, in der Zeitarbeit waren es 51.000. Überraschend ist auch die Entwicklung bei jungen Akademikern: Laut Bundesagentur für Arbeit waren im ersten Halbjahr 2025 44.086 junge Akademiker ab 30 Jahren arbeitslos. Ein Anstieg von 21 Prozent im Vergleich zu 2024 (36.430).

Experten sehen mehrere Reformfelder als entscheidend: Arbeitsanreize stärken, Hürden bei der Fachkräftezuwanderung abbauen und Bürokratielasten reduzieren. Steuerliche Anreize für private Investitionen sollten erhöht und Bedingungen für Start-ups sowie Forschung und Entwicklung verbessert werden, empfiehlt die Bundesbank. Wacker Chemie CEO Hartel warnt eindringlich: „Wenn Deutschland sich von einzelnen Industrien verabschiedet, wackelt das ganze System – und die Deindustrialisierung schreitet voran“. (ls)

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