FOCUS-Gastbeitrag von Alon Pinkas - „Gedankenlos ins Debakel“: Israelischer Ex-Diplomat attackiert Netanjahu
Der 7. Oktober war zweifelsohne der schlimmste Tag in der Geschichte Israels. Dann wurde daraus das schlimmste Jahr in der Geschichte Israels, das die Psyche des ganzen Landes in einem Ausmaß und einer Tiefe erschüttert hat, die wir möglicherweise noch nicht gänzlich begreifen oder einschätzen können.
Schlimmster Krieg Israels
Der barbarische Anschlag der Hamas, der darauffolgende und weiter wütende Krieg im Gazastreifen, die 100 Geiseln, die – von der israelischen Regierung aufgegeben – in den Tunneln der Hamas verrotten, die Ausweitung des Krieges auf den Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah und nun auch die direkte Konfrontation zwischen Israel und dem Iran: All das hat dieses vergangene Jahr zum schlimmsten Krieg Israels gemacht.
Es mag viele taktische Erfolge und beeindruckende Operationen gegen die militärische Führung der Hisbollah gegeben haben, aber: Strategische Vorteile wurden nicht erreicht. Stattdessen kämpft man nun an drei Fronten, ohne ein kohärentes Ziel. Und der gerechte Kampf um Gaza wird in die Länge gezogen, um das politische Überleben von Benjamin Netanjahu zu sichern.
Am ersten Jahrestag des 7. Oktober, als die Israelis verzweifelt, gequält und immer noch am Boden zerstört waren, war alles, was der Premierminister bei einer Kabinettssitzung zu sagen hatte, sein Vorschlag, den Namen des Krieges von „Schwerter aus Eisen“ in „Komemiyut“-Krieg zu ändern – was auf Hebräisch sowohl „Unabhängigkeit“ als auch „Wiedererwachen“ bedeutet (abgeleitet vom Wortstamm „kom“: sich erheben oder aufstehen).
Netanjahu besaß also die Unverfrorenheit, die Dreistigkeit und den Größenwahn, einen Krieg, für den er nie die Verantwortung übernommen hat, nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 benennen zu wollen. Für den Premier ist dies ein entscheidender Moment, sowohl für Israel als auch für ihn selbst – was für Benjamin Netanjahu offenkundig ein und dasselbe ist.
„Neu geordneter Naher Osten“
Viele Sesselstrategen (von denen es in Israel etwa 10 Millionen gibt), selbst ernannte Orientalisten und vorherwissende Nahostexperten hyperventilieren jetzt bei dem Gedanken, Israel könnte den Iran angreifen. Begeistert und inbrünstig behaupten und predigen sie, die Hisbollah ein für alle Mal auszulöschen und gleichzeitig dem Iran den vernichtenden militärischen Schlag zu versetzen, würde die strategische Landschaft in der Region vorteilhaft verändern. Die Folgen wären großartig, behaupten sie: ein neu geordneter Naher Osten, eine positive Umgestaltung der negativen Dynamik in der Region und ein neuer Kurs für ihre bislang unheilvolle Entwicklung.
Nun bin ich ganz gewiss kein blauäugiger Friedensbewegter – und dennoch warne ich vor einer unkontrollierbaren Eskalationsspirale.
Es geht mir nicht darum, die Durchführbarkeit der beiden Vorhaben zu bestreiten, sondern die immer gleiche, dumme Vorstellung kritisch zu hinterfragen, man könne die Region und Israels dortige Position ohne Bezugnahme oder Rücksicht auf die Palästinenser und den andauernden, ungelösten israelisch-palästinensischen Konflikt umgestalten.
Hat Benjamin Netanjahu denn gar nichts aus dem 7. Oktober gelernt?
Hat Benjamin Netanjahu denn gar nichts aus dem 7. Oktober gelernt? Das ist eine rein rhetorische Frage. Der Premierminister befindet sich auf einer Art messianischem Egotrip: Vor Kurzem sagte er bei einem Besuch der amerikanischen Senatoren Richard Blumenthal und Lindsey Graham, dass „wir anders als beim Holocaust zurückschlagen. Wir kämpfen wie die Löwen mit Unterstützung der amerikanischen Regierung und des amerikanischen Volkes.“
Die Anspielung ist dreist und ganz sein Stil
Die Anspielung ist dreist und ganz sein Stil, nach dem Motto: Tragischerweise war ich, Netanjahu, 1939 bis 1945 nicht da – aber ich habe euch gewarnt, dass es wieder genau wie 1938 ist.
Ohne auf die zweifelhafte Wahrscheinlichkeit einzugehen, erfolgreich sowohl die Hisbollah zu vernichten als auch Iran als „Papiertiger“ vorzuführen, hier ein neuartiger, kontraintuitiver Gedanke: Dies wäre auch ohne einen Krieg mit dem Iran möglich und ist es noch immer.
Derselbe größenwahnsinnige Netanjahu, der 2002 in einer Anhörung vor dem US-Kongress in Washington die glorreiche Idee präsentierte, eine amerikanische Invasion im Irak werde den Nahen Osten umgestalten, „enormen positiven Widerhall in der Region“ finden und den Sturz des iranischen Regimes herbeiführen, ist nun davon überzeugt, dass er die Region in einem Zug zerlegen und neu aufbauen kann. Natürlich mit militärischen Mitteln, denn wenn man nur einen Hammer hat, sieht jedes Problem und jede Herausforderung wie ein Nagel aus.
Stellen Sie sich vor, Israel ließe sich auf den von Präsident Joe Biden im Dezember 2023 erstmals vorgestellten „Nachkriegsplan für Gaza“ ein und akzeptierte ihn, selbst nur in Teilen. Die Phasen zwei und drei des Plans sehen regionale Vereinbarungen, eine Normalisierung der Beziehungen und sogar den Rahmen für ein regionales Verteidigungsbündnis unter US-Federführung vor. Israel wird lediglich aufgefordert, sich zu einem echten politischen Prozess mit den Palästinensern auf der Grundlage des Zweistaatenprinzips zu verpflichten, ohne Vorgabe von Modalitäten und Fristen und ohne vorab starr festgelegte endgültige Regelung.
Stellen Sie sich ebenfalls vor, Israel hörte und beherzigte die Worte des jordanischen Außenministers Ayman Safadi, der Ende des vergangenen Monats am Rande der UN-Generalversammlung sagte: „Wir sind hier – Mitglieder eines muslimisch-arabischen Ministerausschusses, beauftragt von 57 arabischen und muslimischen Ländern – und ich kann Ihnen ganz unmissverständlich sagen, dass wir alle hier und jetzt bereit sind, die Sicherheit Israels zu garantieren, wenn Israel die Besatzung beendet und die Entstehung eines palästinensischen Staates zulässt. ... (Netanjahu, Anm. der Red.) schafft diese Gefahr, weil er die Zweistaatenlösung einfach nicht will. Und wenn er die Zweistaatenlösung nicht will, können Sie dann die israelischen Offiziellen fragen: Worauf sind sie aus außer Krieg, Krieg und nochmals Krieg?“
Aber nein, so tickt Netanjahu nicht. Hätte Israel mit aller Kraft versuchen sollen, die Hamas zu schwächen? Unbedingt. Hätte Israel die Hisbollah flächendeckend auf allen Ebenen angreifen sollen? Zweifelsohne. Die Hisbollah hat den Libanon als Geisel genommen, einen kriegerischen Staat im Staat errichtet und vom Libanon aus einen für Israel unhaltbaren Zustand geschaffen. Hätte Israel den Iran provozieren sollen? Nein.
Für alle drei Schauplätze gibt es keinen Plan
Was haben die drei Schauplätze gemeinsam, außer dass Israel sich selbst verteidigt? Für alle drei gibt es keinen finalen Plan, keine politische Vision und keine strategischen Ziele. Aber Netanjahu handelt nicht strategisch. Er handelt wie Netanjahu, und die Katastrophe des 7. Oktobers ist alles, weswegen man sich jemals an ihn erinnern wird.
Benjamin Netanjahu könnte Hassan Nasrallah noch sieben weitere Male töten, die Geschichte würde ihn dennoch nicht als den gerechten Kreuzritter würdigen, als den er sich selbst sieht. Stattdessen wird sie ihn als den unfähigen Politiker sehen, der Israel gedankenlos ins Debakel geführt hat, als den ultimativen Intriganten, dem es nur darum ging und geht, im Amt zu bleiben.
In dieser düsteren, aufwühlenden Zeit der Selbstbetrachtung sollten wir uns bewusst machen, dass Israel aus dieser Situation zwar immer noch gestärkt in eine bessere Zukunft gehen könnte, dass jedoch kein Mann in der Geschichte mehr für die substanzielle Zerstörung seines eigenen Landes verantwortlich war als Benjamin Netanjahu.