Anonyme Aloholiker: Anbeichten gegen den Dämon

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Das Treffen der Anonymen Alkoholiker beginnt mit dem „Gedanken zum Tag“ aus dem gleichnamigen Buch. Weil Faschingsdienstag ist, gibt es in Pfaffing Krapfen. Die EZ durfte unter Wahrung der Anonymität dabeisein. © Josef Ametsbichler

Alkoholismus erfasst Körper und Seele, oft unbemerkt und schleichend. Umso jäher trifft einen der Absturz. Die Sucht werden die Betroffenen nie wieder los. Ein Besuch bei Anonymen Alkoholikern.

Landkreis – Mit ausgestreckten Händen umklammert der grauhaarige Mann im Kapuzenpulli die Plastikflasche mit der Apfelschorle, als greife er nach einer Rettungsboje. Ein, zwei Herzschläge lang sammelt er sich mit schief gelegtem, in Falten gezogenem Gesicht, als wolle er schreien. Dann schnauft er durch und sagt in die Runde: „Es zerreißt mich innerlich.“ Richard hat sich mit jemandem gestritten. Eigentlich heißt er anders, Details zu seinem Ärger sollen nicht in der Zeitung stehen. Wichtig ist nur: Schon ein kleiner Anlass kann ihn verzweifeln lassen. Andere spülen den Ärger mit einer Halben Bier hinunter und lassen es gut sein: „Schwoam mers obe!“ Der Mittsechziger hat diesen Ausweg nicht. „Ich bin Richard“, hat er vorausgeschickt. „Und ich bin Alkoholiker.“ Es habe lang gedauert, bis er diesen Satz das erste Mal herausgebracht habe.

„Weil es mich stabil hält“, sagt einer der 15 Teilnehmer an dem Treffen im Pfaffinger Gemeindesaal über die dortigen AA-Treffen. Zu ihrem Schutz ist das Foto nachbearbeitet.
„Weil es mich stabil hält“, sagt einer der 15 Teilnehmer an dem Treffen im Pfaffinger Gemeindesaal über die dortigen AA-Treffen. Zu ihrem Schutz ist das Foto nachbearbeitet. © Josef Ametsbichler

15 Menschen im geschätzten Alter zwischen Anfang 40 und Ende 70 sitzen an diesem Abend um den schmucklosen, weißen Tisch im kleinen Gemeindesaal, einige Frauen, mehr Männer. Jemand hat Krapfen mit Aprikosenfüllung mitgebracht. Es ist Faschingsdienstag. In Ebersberg klebt die Innenstadt von Bier und Sekt. Narren torkeln durch die Dämmerung. In Pfaffing, ein Stück östlich der Landkreisgrenze, treffen sich die Anonymen Alkoholiker, wie jeden Dienstag. „Fasching ist krass“, sagt einer.

Entscheidend: Der Wille zum Aufhören

Es sind Gesichter aus dem Landkreis Ebersberg dabei, für die die 2006 gegründete Gruppe im nahen Pfaffing eine wichtige Anlaufstelle ist. Auf der Fensterbank stehen Sterbebilder einstiger Gruppenmitglieder. Daneben ein Schild: „Wen Du hier siehst, was Du hier hörst – Wenn Du gehst, Bitte, lass‘ es hier!“ Nur absolutes Vertrauen lässt zu, dass die Besucher hier ihre Sorgen, Nöte und Geschichten in die Runde beichten. Manche haben bei den ersten Treffen Fantasiegeschichten erzählt, bis sie den Mut zur Wahrheit fanden. Einzige Teilnahmevoraussetzung: der Wille, vom Dämon Alkohol loszukommen.

Den einen gelingt das seit Jahrzehnten, andere hatten den jüngsten Rückfall vor wenigen Wochen. Trocken sein und nüchtern, das sind zwei Paar Stiefel, sagt jemand. „Die geistige Gesundheit kommt über die Jahre wieder.“ So oder so – entscheidend ist immer jeder neue Tag. „Ich bin Alkoholiker“, sagt Herbert (63), der an diesem Tag die Begrüßung und Verabschiedung moderiert und die Vornamen derer, die sich zu Wort melden, händisch in ein Notizbüchlein schreibt. „Am längsten nüchtern ist von uns der, der heute als erster aufgestanden ist.“ Einen Chef gibt es nicht. Im Kampf gegen die Sucht sind alle gleich. Der Tisch hört zu. Der Tisch urteilt nicht. Es gibt keine Ratschläge, keine Mitleidsbekundungen, kein Augenverdrehen, wenn einer vom Hundertsten ins Tausendste kommt. „Danke“, sagt Herbert am Schluss. „Schön, dass du da bist.“ Ein Satz, der guttut. Alle duzen sich, manche sind seit Jahrzehnten dabei, ohne je ihren Nachnamen genannt zu haben.

Verleugnung, Absturz, Geständnis

Jürgen erzählt, wie er in der Lehre das Saufen lernte, beim Barras perfektionierte und als Berufskraftfahrer dauerblau unterwegs war. Uli, wie er sich besonders gescheit dabei vorkam, auf der Heimfahrt entlang der B304 nach Südosten in jeder Kneipe nur drei Halbe zu schlucken. Winfried (alle drei Namen geändert), wie er die Trinkerei so geschickt kaschierte und weg log, dass er sich selber glaubte – und in seinem Nebel nicht merkte, dass jeder seine Fahne roch. „Ich habe immer einen gefunden, der mehr getrunken hat als ich“, sagt einer der drei; die andern zwei nicken. Kein Problem also? Doch. „Ich bin Alkoholiker.“ Von der Verleugnung zum Geständnis mäandern die Pfade, manchmal kreuzen sie sich. Einige kannten sich vom Tresen und begegneten sich bei den Anonymen Alkoholikern wieder.

„Bitte lass es hier“, lautet die Vertrauensbitte zu dem, was beim Treffen gesehen und besprochen wird. Daneben Sterbebilder früherer Teilnehmer, von der EZ anonymisiert.
„Bitte lass es hier“, lautet die Vertrauensbitte zu dem, was beim Treffen gesehen und besprochen wird. Daneben Sterbebilder früherer Teilnehmer, von der EZ anonymisiert. © Josef Ametsbichler

Dazwischen liegt der Absturz, der jeden anders trifft. Eine kleine Auswahl der großen Lebenskatastrophen: Führerschein weg, Job weg, Geld weg, Ehe am Ende, Delirium, Entgiftung, Entzug, stationäre Therapie. Die Biografien sind getränkt und vollgesogen mit Leid und dem Kampf gegen sich selbst, oft seit der Jugend. „Ich dachte, ich bin geheilt“, sagt einer, der mit Mitte 20 das zweite Mal den Führerschein verlor, eine lange Therapie machte. „Ich bin Alkoholiker“, sagt er. Der Rückfall ist einen Schluck entfernt. Richard erzählt, wie er einmal nichtsahnend den Finger in einen Plätzchenteig steckte, den jemand mit Rum verfeinert hatte. Er fraß die klebrige Masse hilflos in sich hinein, bis er kotzte. „Ich bin Alkoholiker.“ – das mantraartig wiederholte Bekenntnis ist eine Mahnung an sich selbst. Eine Erinnerung an eine Sucht, die nicht heilbar, nur jeden Tag aufs Neue beherrschbar ist. Manchmal.

Gemeinsam kämpft es sich leichter

Der Tisch kaut Krapfen und Schokoriegel nieder, schluckt Saftschorle, Grapefruit-Zitrone, Mineralwasser. Adrige Hände nesteln an Zetteln, Flaschen, Verpackungen. „Ich gehe her, weil es mich stabil hält“, sagt einer über die Meetings. „Nach außen geht es mir gut, aber dem Alkohol gegenüber bin ich chancenlos“, sagt ein zweiter. „An meine Seele kommt der Arzt nicht hin“, sagt ein dritter. Deswegen sitzen sie hier jede Woche zusammen. Weil vielleicht nur die Betroffenen erahnen, was der Alkohol in ihnen angerichtet hat. Weil sie hier weinen, beichten und auch lachen können. Das trägt, sagt ein Vierter: „Den Wahnsinn, den wir in unserer Sauferei fabriziert haben, können wir uns selber kaum erklären.“

Offene Treffen der Anonymen Alkoholiker jeden 1. Dienstag im Monat gemeinsam mit Al-Anon ab 19 Uhr im kleinen Gemeindesaal,Schulstraße 3 in Pfaffing. Mehr Infos und Treffpunkte hier.

Al-Anon: Wenn Angehörige trinken

Anita trinkt nicht, trank nie. Sie sitzt an diesem Faschingsdienstag trotzdem mit am Tisch der Anonymen Alkoholiker in Pfaffing. „Alkoholismus ist eine Familienkrankheit“, sagt sie. Und: „Ich bin Al-Anon.“ Der Ex-Partner der 72-Jährigen ist Trinker. Zu Al-Anon, einer eigenständigen Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholikern, ging sie nicht für ihn, sondern für sich. „Ich wollte ihn nicht dabei haben. Ich wollte gscheit reden“, sagt die zierliche Frau im rosafarbenen Strickteil und legt die Hand mit Nachdruck auf den Tisch. Von ihrem Ex ist sie lang getrennt, die Unterstützung der Gruppe sucht sie weiter. „Ich wurde davon auch krank“, sagt sie über seine Sucht. Bei Al-Anon habe sie gelernt, mit der Machtlosigkeit umzugehen. Dass es nicht half, dass sie ihn zwischen Arbeit und Kneipe abfing, seine Schnapsverstecke aufspürte, die Flaschen wegschüttete oder den Füllstand mit dem Filzstift markierte. Dass Reden hilft, mit anderen, die ähnliches durchmachen. Das Elend eines Alkoholikers, einer Alkoholikerin, kann ganze Familien anstecken; Leid auslösen, das sich über Generationen fortpflanzt, sagt eine andere Besucherin. Einmal monatlich treffen sich Anonyme Alkoholiker und Al-Anon in Pfaffing, um miteinander über die Sucht zu sprechen. Eigene Al-Anon-Treffen finden etwa in Rosenheim statt. Alle Infos online: www.al-anon.de

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