Putins vielsagende Rekrutierung im Ukraine-Krieg: „Fast dreimal häufiger eingezogen“

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Der Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert auch in Russland zahllose Opfer. Doch die Verteilung der Todesfälle spricht Bände. Eine Analyse.

Vor gerade einmal zwei Wochen setzte Wladimir Putin ein eher ungewöhnliches Zeichen: Zwei neue Feiertage verkündete Russlands Machthaber, mitten im Ukraine-Krieg. Es handelte sich um den „Tag der kleinen Indigenen Völker Russlands“ und den „Tag der Sprachen der Russischen Föderation“. Der Münchner Merkur hat deutliche Einschätzungen der Betroffenen, Russlands Ureinwohnern, zu diesem vermeintlichen Schritt der Anerkennung erhalten. Die Lage gestaltet sich auch im Ukraine-Krieg nach den verfügbaren Daten ganz anders.

Links eine Militär-Gedenkparade in Chabarowsk, junge Männer mit Stahlhelmen auf einem historischen Lkw, rechts Aktivistin Tjan Zaotschnaja mit einem Protestbanner vor dem Brandenburger Tor in Berlin.-
Junge Männer bei einer Parade in Chabarowsk – in dieser Region werden Indigene deutlich häufiger eingezogen, die Tjan Zaotschnaja (re.) sagt. © Dmitry Feoktistov/Zuma Press/Imago/privat

Putin hatte bei dem Termin am 6. November vor Versuchen einer „Dekolonisierung Russlands“ gewarnt. Man wolle das Land aufteilen – in kleine, „dem Westen unterworfene Splitter“. Anlass zur Einigkeit mit Moskau gibt der Kremlchef den indigenen Völkern in Russland aber kaum – so sieht es jedenfalls Tjan Zaotschnaja, Vorsitzende des Internationalen Komitees der Indigenen Völker Russlands (ICIPR). Die in Kamtschatka, in Russland äußerstem Osten, aufgewachsene Aktivistin lebt seit Jahrzehnten in München, hat aber nach eigenen Angaben Kontakt zu Menschen vor Ort.

Indigene sterben in Russlands Angriffskrieg deutlich häufiger

Ein Indikator für Putins reale Politik sind die Einberufungszahlen und Todes-Statistiken im Ukraine-Krieg. Russlands Armee legt diese zwar nicht offen. Aktivisten verfolgen aber öffentliche Postings und lokale Berichte, etwa zu Beerdigungen. Die renommierte London School of Economics griff im Sommer einen auf diesen Daten basierenden Bericht von Mediazona und BBC News Russian auf. Das Ergebnis: Indigene sterben in Russlands Angriffskrieg deutlich häufiger – sowohl verglichen mit der Gesamtbevölkerung, als auch mit der Gesamtbewohnerschaft ihrer Heimatregionen.

Zaotschnaja verweist auf Anfrage unserer Redaktion auf Äußerungen der Aktivistin Maria Wjuschkowa aus der an der Grenze zur Mongolei gelegenen Region Burjatien. Oft werde übersehen, dass nicht nur ethnische Minderheiten allgemein, sondern gerade die indigenen Völker der Arktis im Norden Russlands „zu den am stärksten Betroffenen“ gehörten, sagte die. Völker wie die Inuit, Tschuktschen, Korjaken oder Samen erlitten im Verhältnis sogar schwerere Verluste als die Burjaten. „Beispielsweise in der Region Chabarowsk wurden indigene Männer fast dreimal häufiger eingezogen als nicht-indigene Männer“, betont Zaotschnaja. (siehe auch Tabelle unten)

Protest gegen den todbringenden Ukraine-Feldzug ist indes schwierig, wie vor einiger Zeit auch der Osteuropa-Kenner Klaus Gestwa unserer Redaktion bestätigte. „Der staatliche Repressionsapparat hat die Gesellschaft längst in einen rigiden Würgegriff genommen, um mögliche soziale Proteste schon im Keim zu ersticken“, sagte der Historiker der Uni Tübingen. Er verwies auf die bekannten regionalen Unterschiede bei der Mobilisierungs-Praxis in Russland: „Auf einen in Moskau eingezogenen Soldaten kommen so in Dagestan und Burjatien 60 bis 90 für den Krieg mobilisierte Männer.“

Zaotschnaja und ihre Mitstreiter vor Ort in Russland misstrauen Putins scheinbarem Kuschelkurs nicht nur aus diesem Grund. Kritische Stimmen (und Blogger) aus der Gemeinschaft in Russland seien verschwunden, sagt die Münchnerin. Auch in den vergangenen Monaten seien indigene Aktivisten in Hausarrest, Lager- oder Untersuchungshaft gekommen. Zugleiche greife Moskau nach dem Lebensraum der Indigenen. In Sibirien etwa lagern große Teile der natürlichen Ressourcen Russlands – die der Kreml weiterhin als eine Haupteinnahmequelle nutzt.

Indigene in Putins Russland unter Druck: „Für den Krieg opfern“

„Die Propaganda ist an die heimische Öffentlichkeit gerichtet“, urteilte ein russische Kontakt Zaotschnajas. „Damit die Ureinwohner an Putin weiterhin glauben und sich für den Krieg opfern, während die rohstoffenreichen Gebiete Sibiriens vollig von indigenen Völkern ‚gesäubert‘ werden...“ Ein anderer sortierte die Verkündung der Feiertage in den Bereich „durchdachter russischer Hochpolitik“. Die tue sich schwer, die „großen“ Völker Russlands zu „neutralisieren“. Gegenüber den kleinen Völkern demonstriere sie nun bewusst „väterliche Fürsorge“. Die Zitatgeber blieben aus Schutz vor möglicher Verfolgung anonym.

Zaotschnaja zufolge waren ab den 1990er bis ungefähr in die Jahre 2012 bis 2014 viele Indigene in Russland „auf der Suche nach ihrer eigenen Identität“ – sprachen etwa mit Verwandten und Bekannten über Ereignisse der Sowjetzeit. „Auf Kamtschatka wurde über Repressionen in der Stalinzeit zum ersten Mal 1995 gesprochen“, sagt sie. Debattiert habe man auch die Gründung von Territorien, in denen die Natur auf traditionelle Weise genutzt werden sollte. Allerdings sei die Bewegung zu schwach gewesen, um sich gegen Moskau und die Interessen der Rohstoffunternehmen durchzusetzen.

Bevölkerungsgruppe Bestätigte Todesfälle Fälle pro 1.000 Zugehörige
Burjaten 1.012 2,2
Nenzen 200 4,0
Tuwiner 935 3,2
Telengit 28 10,3
Tschuktschen 94 5,8
Russland gesamt 96.371 0,71

Auswahl, Stand Mai 2025. Quelle: London School of Ecomics auf Basis von Mediazona-Daten. Russland veröffentlicht keine offiziellen vollständigen Daten zu Verlusten im Ukraine-Krieg.

Bereits in den 10er-Jahren sei das politische Klima rauer geworden, in Form „leiser Repressionen“. Bei ihrem letzten Besuch in Kamtschatka im Jahr 2014 hätten sie einige Bekannte und Mitstreiterinnen und Mitstreiter vorgeblich nicht mehr – oder „nur flüchtig“ – gekannt. „Kurz vor dem Abflug sagten mir ein paar Menschen aus zwei verschieden Orten, dass sie von der Geheimpolizei FSB ausgefragt werden, worüber unsere Gespräche waren“, sagt Zaotschnaja.

Der Verband ICIPR, in dem sich die Münchnerin aus dem Exil engagiert, ist nicht Teil des russischen Staatsapparats. Anders verhält es sich nach Einschätzung etwa der Gesellschaft für bedrohte Völker mit der NGO RAIPON, die seit 1990 die Interessen der Indigenen vertrat. 2013 übernahm Grigori Ledkow aus der Putin-Partei „Einiges Russland“ die Führung, er ist wegen seiner Unterstützung der völkerrechtswidrigen Annexionen in der Ukraine von der EU und den USA mit Sanktionen belegt. Mutige Menschen in Russland seien indes weiterhin aktiv, erklärt Zaotschnaja. „Uns im Ausland bleibt, ihre Kämpfe und die Repressionen bekannt zu machen.“ (Quellen: Tjan Zaotschnaja, dpa, Mediazona, Gesellschaft für bedrohte Völker, eigene Recherchen/fn)