Obwohl Ungarn dagegen ist: Europäischer Rat stimmt mit Trick einstimmig für Beitrittsgespräche mit der Ukraine

  1. Startseite
  2. Politik

Kommentare

Überraschung beim EU-Gipfel in Brüssel: Die Staats- und Regierungschefs haben sich für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und dem Nachbarland Moldau ausgesprochen

Die Entscheidung wurde im Konsens ohne den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán getroffen. Er distanzierte sich anschließend davon. Dies habe jedoch keine politische oder juristische Bedeutung, hieß es in Brüssel.

Bundeskanzler Olaf Scholz nannte den Gipfelbeschluss „ein starkes Zeichen der Unterstützung und eine Perspektive für die Ukraine“. Die Ukraine und Moldau gehörten „zur europäischen Familie“. Ratspräsident Charles Michel sprach von einem „historischen Moment“. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj feierte einen „Sieg für die Ukraine“ Dies sei auch „ein Sieg für ganz Europa. Ein Sieg, der motiviert, inspiriert und stärkt.“

So bekommen Sie den Newsletter von Table.Media

Dieser Artikel liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Europe.Table am 15. Dezember 2023.

Erhalten Sie 30 Tage kostenlos Zugang zu weiteren exklusiven Informationen der Table.Media Professional Briefings – das Entscheidende für die Entscheidenden in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und NGOs.

Orbán verlässt im entscheidenden Moment den Saal

Orbán, der mit einem Veto gedroht hatte, nahm an der Entscheidung nicht teil. Scholz und andere führende EU-Politiker hatten bis zuletzt versucht, ihn umzustimmen – ohne Erfolg. Da er im entscheidenden Moment den Saal verließ, konnte er jedoch nicht Nein sagen. Nach Angaben mehrerer EU-Diplomaten hatte Scholz die rettende Idee, dass Orbán der Beschlussfassung einfach fernbleiben könne.

Dieses Vorgehen sei vorab mit Orbán abgesprochen worden, hieß es. Ärger gab es trotzdem. Der Ungar sprach nach dem grünen Licht für die Ukraine von einer „völlig sinnlosen, irrationalen und falschen Entscheidung“. Er habe sich der Stimme enthalten. „26 andere Länder haben darauf bestanden, dass diese Entscheidung getroffen wird“, erklärte er. „Daher hat Ungarn beschlossen, dass, wenn 26 andere Länder dies tun, sie ihren eigenen Weg gehen sollten.“

Entscheidung im Namen der EU

Die Entscheidung ist dennoch im Namen der gesamten EU gefallen – denn Orbán hat kein Veto eingelegt. Der als chronische Neinsager bekannte Rechtspopulist aus Budapest habe im entscheidenden Moment gekniffen, hieß es im Brüsseler Ratsgebäude. „Am Ende zählt nur, ob man ein Veto einlegt oder ob man kein Veto einlegt“, sagte der belgische Premierminister Alexander De Croo. Orbán solle nun „seinen Mund halten“.

Der Gipfel entschied zudem, Georgien den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen. Auch das war nicht erwartet worden. Die Mitgliedsländer der EU wollen auch Beitrittsgespräche mit Bosnien-Herzegowina aufnehmen, sobald das Land die Bedingungen dafür erfüllt. Für Bosnien-Herzegowina hatte sich auch Orbán starkgemacht. Österreich hatte ebenfalls eine Perspektive für den Westbalkan gefordert.

Ukraine muss noch Reformen machen

Mit diesen Weichenstellungen nimmt die lange verschmähte Erweiterungspolitik wieder Fahrt auf. Sie wird mit geopolitischen Notwendigkeiten begründet. Es gelte, sich dem imperialen Russland entgegenzustellen. Allerdings dürften die Beitrittsgespräche nicht sofort beginnen. Die Ukraine muss noch einige Reformen umsetzen; zudem fehlt ein formeller Verhandlungsrahmen. Die Kommission will im März erneut berichten.

Bis die eigentliche Beitrittskonferenz beginnt, könnten noch einmal mehrere Monate vergehen. Als abschreckendes Beispiel gilt Nordmazedonien. Das Land bekam bereits 2018 das grüne Licht von der EU-Kommission. Die erste Beitrittskonferenz konnte aber erst im Juli organisiert werden – wegen eines Vetos von Bulgarien. Ein ähnliches Schicksal könnte auch die Ukraine und Moldau ereilen.

Bis zum tatsächlichen EU-Beitritt dürften noch Jahre vergehen. Spätestens 2030 soll es aber so weit sein. Bis dahin will die EU auch die nötigen Reformen durchführen, um sich selbst erweiterungsfähig zu machen. Eine „Roadmap“ für diese Reformen soll unter belgischer Ratspräsidentschaft bis Juni 2024 erarbeitet werden. Allein durch den Beitritt der Ukraine könnten zusätzliche Kosten von jährlich 13,2 Milliarden Euro auf die EU zukommen, heißt es in einer Studie des Jacques Delors Centre.

Hilfspaket von 50 Milliarden für die Ukraine

Allerdings bringt die Stabilisierung der Ukraine schon jetzt erhebliche Belastungen mit sich. Der EU-Gipfel diskutierte über ein auf vier Jahre angelegtes Hilfspaket in Höhe von 50 Milliarden Euro für Kiew. Die EU-Kommission will es teilweise durch eine Aufstockung des auf sieben Jahre angelegten EU-Budgets (Mehrjähriger Finanzrahmen, MFR) finanzieren. In einem ersten Entwurf war von insgesamt 66 Milliarden Euro die Rede.

Dagegen legte jedoch Scholz Widerspruch ein. Er will zwar die Ukraine finanziell unterstützen, lehnt aber eine großzügige Aufstockung des MFR ab. Ratspräsident Michel legte einen neuen Vorschlag vor, der die Aufstockung auf rund 22 Milliarden Euro begrenzen würde. Allerdings ginge dies zulasten von laufenden EU-Programmen; auch neue Aufgaben bei der Migration und der Wettbewerbsfähigkeit könnten unter den Kürzungen leiden.

Der Vorschlag von Michel fand deshalb zunächst keine Zustimmung. Einige EU-Staaten forderten mehr Geld für neue Gemeinschaftsaufgaben. Deutschland wollte den Zuschuss an frischem Geld weiter begrenzen. Und dann war da auch noch Orbán, der am liebsten gar kein Geld an die Ukraine überweisen würde und erneut mit einem Veto drohte. Nach dem Coup um den Beitritt drohte deshalb ein zweiter Showdown – diesmal ums Geld. Auch das zwölfte Sanktionspaket gegen Russland wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde in der Nacht angenommen. Österreich muss noch seinen Vorbehalt dagegen aufheben. Österreich wird dies heute tun. Mit Stephan Israel

Auch interessant

Kommentare