An der Front fehlt es wieder an allem

Schwieriger Kriegsverlauf und Spannungen in der Politik: Die Ukraine steht vor einem harten Winter. Auch, weil die Unterstützung des Westens nachlässt.
Der ukrainische Versuch einer Gegenoffensive bis weit in das von Russland besetzte Gebiet ist vorerst gescheitert. Ein militärisch wichtiger Durchbruch zum Asowschen Meer – quer durch den von Kreml-Truppen eroberten Landkorridor zur Halbinsel Krim – scheint in weiter Ferne. Gut 21 Monate nach dem russischen Einmarsch machen sich Ratlosigkeit und Nervosität in Kiew breit, während westliche Hilfe nachlässt. Der Ukraine fehlt es an Waffen, Munition, Geld und in absehbarer Zeit auch an Soldaten.
Geht die erklärte Strategie des Westens, die Ukraine zur Verteidigung und Rückeroberung ihrer Gebiete zu befähigen, mindestens aber aus einer Position der Stärke mit Russland verhandeln zu lassen, noch auf? "Wir müssen auf die Langstrecke vorbereitet sein", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg jüngst in Berlin. Der Verlauf des Krieges sei nicht vorhersehbar, doch seien "Geschehnisse rund um einen Verhandlungstisch untrennbar verbunden mit der Situation auf dem Gefechtsfeld". Der russische Präsident Wladimir Putin müsse erkennen, dass er auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen könne.
Von einer empfindlichen Niederlage ist Putin - nach der militärischen Schmach in den ersten Monaten seines Angriffskriegs - aber entfernt. Nach den Vorjahreserfolgen bei Kiew, Charkiw und Cherson hatte Kiews Oberkommandierender Walerij Saluschnyj vor einem Jahr im britischen "Economist" gesagt: "Ich brauche 300 Panzer, 600 bis 700 Schützenpanzer, 500 Haubitzen. Dann ist es komplett realistisch, zu den Linien vom 23. Februar zurückzukommen." Anfang des Monats sagte er nun der Zeitschrift: "Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefen und schönen Durchbruch geben". Von einem Patt in einem Stellungskrieg, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, ist nun die Rede.
Gescheiterter Vorstoß der Ukraine sorgt für Frust
Der ukrainische Vorstoß blieb in den dichten Minenfeldern und im Feuer der russischen Artillerie stecken. Zwar meldete Saluschnyj pünktlich zum ukrainischen Unabhängigkeitstag am 24. August noch die Rückeroberung des Dorfes Robotyne im Süden. Seitdem gab es dort jedoch kaum noch Bewegung und die für den Vormarsch wichtige Stadt Tokmak liegt immer noch gut 20 Kilometer entfernt in russischer Hand.
Inzwischen machen sich Soldaten in der ukrainischen Presse verärgert Luft. So sagte der in Deutschland ausgebildete Kompaniechef Mykola Melnyk dem Internetportal censor.net: "Der gesamte Plan der großen Gegenoffensive basierte auf einfachen Dingen: die Moskowiter/Russen sehen die Bradley, Leopard und hauen ab. Das ist es." Seine neu aufgestellte 47. Brigade habe Robotyne bereits am ersten Einsatztag nehmen sollen. Stattdessen brauchten die ukrainischen Truppen gut zweieinhalb Monate. Die Front verläuft bis heute nicht weit von den Ruinen des Dorfes entfernt.
Melnyk verlor gleich beim ersten Angriff sein linkes Bein, als er auf eine Mine trat. "Alle zehn Meter gab es eine Explosion, Explosion, Explosion. Davon wurde der Himmel schwarz. So etwas hab ich noch nicht einmal in Filmen gesehen", beschreibt der 38-Jährige den Tag seiner Verwundung. Im zivilen Leben Jurist, hofft er nun mit Hilfe einer Prothese wieder gehen zu können.
Ukraine hat mit hohen Verlusten zu kämpfen
In der Ostukraine setzten die russischen Truppen die ukrainische Armee massiv unter Druck. In der zerstörten Industriestadt Awdijiwka sind die ukrainischen Soldaten von einer Einkreisung bedroht. Im Gebiet Charkiw hat sich die Front bedenklich der Stadt Kupjansk genähert.
Ein waghalsiger ukrainischer Vorstoß im Gebiet Cherson über den Fluss Dnipro bindet zwar russische Truppen, doch stehen die Ukrainer unter russischem Dauerbombardement, mit tückischen russischen Gleitbomben und Artilleriegranaten – mit hohen Verlusten. Entlang aller Frontabschnitte will der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nun verstärkt Schutzräume und Befestigungen ausbauen.
Der deutsche Militärexperte und Ukraine-Kenner Nico Lange kann kein "Patt" in der Situation erkennen und bezeichnet die Lage als dynamisch. "Was wir erleben werden, hängt auch davon ab, wie wir die Ukraine weiter unterstützen", sagte er der dpa. "Putin hat auch ganz erhebliche militärische Probleme - wir sollten der Ukraine schnell dabei helfen, ihn in der Ukraine jetzt zu stellen und ihm keine Zeit für Erholung, Neuorganisation und Neuaufbau geben. Das Problem würde auch für uns dadurch nur größer, länger und teurer."
Berechnungen des ukrainischen Journalisten Wolodymyr Dazenko zufolge lag der Höhepunkt der westlichen Waffenlieferungen im Januar/Februar. Seitdem ebbten die Nachschublieferungen ab. Während Russland monatlich im Schnitt gut 200 neue oder modernisierte Panzerfahrzeuge an die Front bringen könne, seien es auf der ukrainischen Seite nur rund 60. Bei Artilleriegeschützen erhalte Kiew ein Zwölftel der russischen Menge. Und unterstützt von Nordkorea und Iran verfüge die russische Artillerie über mehr als das Doppelte an Granaten.