US-Zeitung attestiert Deutschen „Identitätskrise“ – wegen unserer Bahn

Die Deutsche Bahn ist nicht nur unpünktlich – sie steht laut einem aktuellen Bericht der „Washington Post“ sinnbildlich für ein tieferliegendes Problem: eine Identitätskrise in einem Land, das einst für Effizienz und Zuverlässigkeit stand.

„Deutschland: das Land des Biers, der Würste – und der pünktlichen Züge“, beginnt die „Washington Post“ süffisant. Doch die Realität sehe längst anders aus: „Tatsächlich ist Deutschland das Land, in dem nur noch 56 Prozent der Züge pünktlich sind.“ Wobei „pünktlich“ bedeutet: mit bis zu sechs Minuten Verspätung.

„Washington Post“ rechnet mit Deutscher Bahn ab

Die Zeitung sieht darin weit mehr als nur ein Verkehrsproblem. In einem Land, in dem Pünktlichkeit tief im kulturellen Selbstverständnis verankert sei, sei die Bahnkrise ein Symptom für einen breiteren Identitätsverlust. Die Titelzeile des Artikels lautet unmissverständlich: „Germany’s identity crisis: The trains no longer run on time.“

Die „Washington Post“ nennt konkrete Beispiele für das Bahnchaos in Deutschland:

  • Schweiz verbannt deutsche Züge: Wegen der massiven Verspätungen dürfen einige Züge aus Deutschland nicht mehr über Basel hinaus fahren. Reisende müssen dort auf verlässlichere Schweizer Bahnen umsteigen.
  • Berlin–Hamburg komplett gesperrt: Die zentrale Strecke zwischen den beiden größten Städten Deutschlands ist seit Ende Juli für neun Monate dicht. Rund 30.000 Fahrgäste täglich sind betroffen. Die Fahrt dauert nun eine Stunde länger, viele verpassen ihre Anschlüsse.
  • Tunnelschock bei Wien: Ein ICE nach Hamburg bleibt außerhalb Wiens in einem Tunnel liegen – ohne Strom, Licht oder Klimaanlage. 400 Passagiere sitzen mehr als sechs Stunden fest, ehe sie über Notausgänge evakuiert werden.

US-Zeitung zitiert Pro Bahn: „Es ist sehr peinlich für Deutschland“ 

Auch im Alltag zeigt sich der Frust, wie die „Washington Post“ erfährt, als sie Bahnreisende begleitet. In Bonn wartet ein Zug morgens mit 14 Minuten Verspätung. In Wuppertal steigen plötzlich 100 zusätzliche Passagiere zu – ihr ursprünglicher Zug ist ausgefallen. 

Ein Berufspendler berichtet: „Pünktliche Züge sind mittlerweile die Ausnahme.“ Ein Rentner sagt resigniert: „Wir alle wissen: Wenn man jahrzehntelang nichts investiert, bekommt man irgendwann genau diese Probleme.“

ICE-Zug steckt bei Wien stundenlang in Tunnel fest (Symbolbild)
Ein ICE-Zug steckte bei Wien stundenlang in einem Tunnel fest (Symbolbild). picture alliance / Rainer Keuenhof

Auch Detlef Neuss, Vorsitzender des Fahrgastverbands Pro Bahn, wird in der „Washington Post“ deutlich: „Es ist sehr peinlich für Deutschland, dass dieses einst so zuverlässige Bahnsystem derart heruntergekommen ist.“ Drei Jahrzehnte Unterinvestition hätten das System ausgehöhlt. „Man erreicht irgendwann den Punkt, an dem nichts mehr funktioniert – und da sind wir jetzt.“

Merz stellt Milliarden für Bahn bereit, „Washington Post“  bleibt skeptisch

Die Deutsche Bahn selbst gesteht im Artikel ein: „Wir bei der DB sind mit diesen Pünktlichkeitszahlen alles andere als zufrieden.“ Der Konzern führt 80 Prozent der Verspätungen im Fernverkehr auf veraltete und überlastete Infrastruktur zurück. Deshalb werde nun an vielen Stellen gleichzeitig saniert – mit massiven Auswirkungen.

Und auch wenn der Bund unter Kanzler Merz nun Milliarden für die Schiene bereitstellt – allein im kommenden Jahr 25 Milliarden Dollar –, bleibt die Lage angespannt. Die Bahn will bis 2027 zumindest 75 bis 80 Prozent Pünktlichkeit erreichen, erklärt die „Washington Post“ ihren Lesern. Ob das gelingt, bleibt offen.

Die Menschen reagieren derweil mit Galgenhumor. Zwei junge Frauen berichten der Zeitung, dass sie ihre Ankunftszeit grundsätzlich mit zwei Stunden Verspätung ankündigen – nur zur Sicherheit. „Man passt sich an“, sagen sie, „und plant am besten für den Ankunftstag gar nichts mehr.“