Antwort auf die Bedrohung von oben: Putin schickt neue „Schildkrötenpanzer“ voraus

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Unscheinbar und tödlich: Drohnen bleiben weiterhin der Schrecken der russischen Invasionstruppen – der „Schildkrötenpanzer“ ist Putins momentane Antwort darauf. (Symbolbild) © Pond5 Images/IMAGO

Die einstige Lachnummer wird zur ernsten Bedrohung: Russland setzt auf weitere „Schildkrötenpanzer“ als Keile in der ukrainischen Verteidigung.

Awdijiwka – „Ich weiß, dass die Leute darüber lachen“, schreibt Rob Lee; aber er bezweifle, dass die Idee wirklich verrückt ist. Der Wissenschaftler des Foreign Policy Research Institute in Philadelphia lässt sich auf seinem X-Kanal (vormals Twitter) über Wladimir Putins „Schildkrötenpanzer“ aus – auch das Nachrichtenmagazin Forbes berichtet darüber, dass Russland offenbar weitere dieser Aufsehen erregenden Vehikel an die Front schickt. Obwohl das erste Auftauchen der kettengetriebenen Schildkröte als kapitaler Flop endete, hat Lee die Idee dahinter verstanden: dass der Aggressor im Ukraine-Krieg von den Verteidigern gelernt hat und ihrer Infanterie am Boden ein Höchstmaß an Schutz bieten will.

„Vorrang dabei hat, infanteristische Kampfgruppen über offenes Feld zu Gebäuden oder Verteidigungsstellungen zu führen“, vermutet Lee. Der „Schildkrötenpanzer“ sieht aus, als würde ein normaler Panzer gerade aus einem kleinen Hangar rollen – vorne schauen nur das Rohr heraus und der vordere Teil des Panzers inklusive des Leitrades des Kettenlaufwerks. Der Panzer wird dabei prinzipiell seiner Rundum-Sicht sowie seiner Mobilität beraubt – auf den Bildern in sozialen Netzwerken pflügt er behäbig über das Schlachtfeld; wodurch er anfälliger wird gegen jede Art von Feindkontakt. Allerdings spekuliert der amerikanische Wissenschaftler darauf, dass die russischen Angreifer gerade lernen, der ukrainischen Verteidigungsstrategie Paroli zu bieten und sich an ein für sie optimales Ergebnis herantasten wollen.

Der erste Einsatz eines „Schildkrötenpanzers“ war ein Desaster, wie Forbes berichtet hatte: Nur wenige Tage, nachdem der möglicherweise auf dem Chassis eines T-72, modifizierte Panzer aufgetaucht war an der Frontlinie um Krasnohoriwka westlich von Donezk in der Ostukraine, entdeckte ein ukrainisches Drohnenteam den mehr als 50 Tonnen schweren Koloss in einer Scheune. Kiews Truppen beschossen den Stellplatz dann mit Artillerie, was zur Zerstörung des kurios aussehenden Do-It-Yourself-Panzers geführt hat. Kommentar von Forbes-Autor David Ax: „Russlands bizarrer ‚Schildkrötenpanzer‘ starb so, wie er lebte: eingehüllt in eine unhandliche Metallhülle, die die Drehung seines Turms verhinderte und sicherlich seine Mobilität einschränkte.“

Allerdings scheint diese vermeintliche Lachnummer Russlands Ernst gewesen zu sein, wie die inzwischen erneut aufgetauchten Fahrzeuge gleicher Bauart nahelegen. Tage vorher hatte der Panzer mit dem ausladenden Stahlkleid eine Kolonne gepanzerter Fahrzeuge auf einem schnellen Vorstoß durch ukrainisches Feuer geführt, um Infanterie in der Nähe von Krasnohoriwka abzusetzen – dort versuchen die Russen offenbar weiterhin Raum zu gewinnen. Wissenschaftler beobachten inzwischen verstärkt das Nebeneinander von moderner und bereits überkommen geglaubter Kriegstechnik.

Ulrike Franke schreibt über den Ukraine-Krieg im Focus von „Erster Weltkrieg mit Technologie“ – die Politikwissenschaftlerin vom European Council for Foreign Relations beschreibt damit die, in ihren Worten, „Gleichzeitigkeit“ von Panzern mit üppigem Stahlmantel sowie aus Schützengräben stürmenden Soldaten mit „Cyberangriffen, und Drohnen, die sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag im Himmel kreisen“. Und sie beobachtet, dass beide Seiten jeweils von der anderen Seite lernen – etwa, dass, wie sie schreibt, die Ukraine beispielsweise behördliche Daten in Cloudlösungen speichere und Russland eben infanteristische Offensiven von schwer zu vernichtenden Panzern anführen lasse.

Russland löst ein Problem – der „Schildkrötenpanzer“ als Keil seiner Offensive

Das Auftauchen neuer „Schildkrötenpanzer“ soll die Ukraine verführen, weitere Schwachstellen ihres Materials sowie ihrer Taktik gegen Drohnenangriffe offenzulegen, vermutet David Ax: Die russische Armee gehe nicht immer besonders zimperlich mit ihrer Ausrüstung und dem Leben ihrer Truppen um, „aber sie ist – als Institution – nicht dumm. Wenn sich ,Schildkrötenpanzer‘ vermehren, liegt das wahrscheinlich daran, dass sie ein Problem lösen“, schreibt er. Ax schreibt davon, dass sie bereits ein alltäglicher Anblick seien – demnach scheint sich die Technik für die aktuellen russischen Angriffsbemühungen und Vorhaben etabliert zu haben.

Diese Annahme stützt Forbes darauf, dass die aktuellen „Schildkrötenpanzer“ jetzt auch in gut ausgerüsteten Einheiten wie der 90. Panzerdivision aufgetaucht sein sollen – die steht offenbar nahe Awdijiwka, um einen Durchbruch nahe dem Dorf Otscheretyne zu verbreitern. Diese Annahme deckt sich mit Berichten des ukrainischen Blogs Militaryland, nach dem die Ortschaft wohl unerwartet gefallen sein soll: „Die nördlich von Awdijiwka gelegene Siedlung sollte ein ukrainischer Stützpunkt sein, der den russischen Vormarsch mindestens einige Wochen lang aufhalten sollte“, wie Militaryland schreibt. Und auch der österreichische Militärbeobachter Oberst Markus Reisner bestätigt den Erfolg russischer Truppen – möglicherweise mithilfe oder sogar dank des Einsatzes des „Schildkrötenpanzers“.

„Wir haben in den vergangenen Tagen gesehen, dass die ukrainische Front zunehmend nachgibt und zwar westlich im Raum von Awdijiwka.“

„Wir haben in den vergangenen Tagen gesehen, dass die ukrainische Front zunehmend nachgibt und zwar westlich im Raum von Awdijiwka“, hat Reisner auf n-tv gesagt. Ihm zufolge habe Russland die Verteidigung auf eine Tiefe von zehn Kilometer aufgerollt – prekär werde diese Situation dadurch, dass Otscheretyne auf einer Anhöhe liege und den Russen jetzt eröffne, nach Norden, Westen und nach Süden weitere Verteidigungsstellungen zu bekämpfen. Das Dilemma daran sei, die Russen brächen an verschiedenen Stellen der Front ein und nötigten der Ukraine den Einsatz ihrer knappen Ressourcen auf – Ressourcen, die praktisch gar nicht mehr vorhanden seien.

Eben für diese Durchbrüche setzt Russland offenbar die „Schildkrötenpanzer“ ein, wie Forbes vermutet. Dabei spiele dann auch dessen Behäbigkeit keine Rolle – die „Schildkröte“ ist der Keil in den ukrainischen Verteidigungslinien; Markus Reisner spricht auf n-tv daher von drohenden Dammbrüchen und einem zu befürchtenden Domino-Effekt. Die Russen haben gelernt, dass ihre größte Bedrohung in der Masse der FPV-Drohnen (First-Person-View) liegt – und setzen weiter auf den „Schildkrötenpanzer“ im Wissen, dass die kleinen Sprengstoff-Mengen den Koloss gerade mal ankratzen können und der Ukraine die Granaten für ein Vernichtungsfeuer fehlen.

Russland folgt der Ukraine – mit Improvisationen gegen die klassische Militärtechnik

Das grob zusammengeschweißte Ungetüm belegt, dass die russische Invasionsarmee also ebenso wie die Ukraine aktuell auf das Improvisieren setzt – bis der nächste Technologie-Schub einsetzt. Oder wie Rob Lee schreibt: „Eine strategische Schwachstelle, die dieser Krieg offenbart, ist die Schwierigkeit Russlands, seine Kampfkraft nach schweren Verlusten an Menschen und Maschinen und hohen Munitionsausgaben aufgrund einer verkümmerten Industriebasis, einer schrumpfenden Bevölkerung und westlichen Sanktionen, die seiner Wirtschaft den ständigen Zugang zu Hochtechnologie verwehren, wiederherzustellen.“ Anders ausgedrückt, könnte Russland wirtschaftlich die Kraft zu echter revolutionärer Technik inzwischen ausgegangen sein.

Damit wäre der „Schildkrötenpanzer“ das aktuelle Maß der technischen Möglichkeiten Russlands. Was wiederum der Ukraine zum Vorteil gereichen könnte, wenn der Nachschub an Munition für die gezogene Artillerie, also die Haubitzen, sowie für die Raketen-Artillerie rechtzeitig einträfe. Gerade mit den reichweitenstarken ATACAMS-Raketen der USA wären – so Markus Reisner auf ntv – die Bereitstellungsräume der russischen Truppen sowie ihre Logistik-Hubs verwundbar. Parallel wartet Fobes-Autor Ax auf den nächsten Innovationsschub der Ukraine in der Drohnentechnik – wenn die Verteidiger nicht länger nur ein Kilo Sprengstoff auf die „Schildkrötenpanzer“ abwerfen könnten, sondern vielleicht 50-Kilo-Granaten.

Ax spricht von der Evolution des Krieges: Im Moment sei das Klima für die rollenden Festungen günstig, aber mit dem anrollenden Nachschub bekämen die Russen das Problem, dass sich das Milieu für die „Schildkrötenpanzer“ ganz real verschlechtere.

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