Überforderte Eltern, auffällige Kinder - Erzieherin packt über Missstände in Kitas aus: „Kinder wachsen zu Egoisten heran“
Sieben Jahre lang ist Maria Specht Erzieherin in einem Kindergarten in der Region Stuttgart gewesen. Es war ihr Traumjob. „Ich war am Anfang total glücklich, dass ich Kindern was beibringen darf, dass Eltern und Kinder mir vertrauen und sich bei mir Rat holen“, erzählt die 33-Jährige. Nun wirft sie hin. Vom 1. September an wird sie für die Arbeitsagentur tätig sein.
Die Liste der Dinge, die zu dieser Entscheidung geführt haben, ist lang. „Der Bruch kam mit Corona. Danach war das Arbeiten nicht mehr so wie früher“, sagt Maria Specht. Hinzu kam in ihrem Fall, dass die Kita zu einem offenen Konzept wechselte. Die Entscheidung habe der Fachbereich getroffen, das Team, mit dem sie stets sehr zufrieden gewesen sei, sei nicht gefragt worden. Sie wolle das neue Konzept nicht verteufeln, es habe Vor- und Nachteile. Doch ein Grund für die Neuausrichtung war ihrer Meinung nach auch, dass man so weniger Personal braucht oder zumindest flexibler auf Personalengpässe reagierenkann.
Denn Erzieherinnen und Erzieher sind knapp, darüber hinaus ist der Krankenstand hoch. „In den vergangenen Monaten war dadurch die Belastung extrem hoch“, erzählt Specht. Manchmal habe sie sich bereits auf dem Weg zur Arbeit Sorgen gemacht: Wer aus dem Kollegium würde heute wieder fehlen? In welche Gruppe würde sie kurzfristig gesteckt werden? Heute hier, morgen dort, dadurch ist ihrer Ansicht nach „der enge Kontakt zu den Kindern verloren gegangen“. In einer großen Kita mit 140 Mädchen und Jungen bleibe die Beziehungsarbeit unter solchen Umständen auf der Strecke.
„Ich kann meinen Job nicht mehr so ausüben, wie ich es eigentlich will“, sagt Maria Specht. Das Thema frühkindliche Bildung, fördern und fordern, sei längst in den Hintergrund getreten. Oft gehe es angesichts der Personalsituation nur noch um eine Aufbewahrung der Kinder, um satt und sauber. „Ich will aber nicht nur Betreuerin sein, sondern Pädagogin“, sagt Maria Specht.
Immer mehr Kinder mit Förderbedarf in den Kitas
Mehr Zeit für die Kinder, dies sei insbesondere vor dem Hintergrund erforderlich, dass es immer mehr Mädchen und Jungen mit Förderbedarf gebe. Ein Grund dafür sei, dass in den Kitas viele Mächen und Jungen mit Migrationshintergrund seien, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen. Aber auch allgemeine Entwicklungsverzögerungen nehmen ihrer Beobachtung nach zu. „Das erschwert die Arbeit zusätzlich“, sagt die Erzieherin. Um diese Kinder gut zu integrieren, brauche es in den Einrichtungen nicht nur ausreichend Personal, sondern zusätzliche Fachkräfte wie zum Beispiel Logopäden.
Maria Specht fordert, dass mehr Geld in die Bildung investiert wird. Um mehr Frauen und Männer für den Beruf zu gewinnen, brauche es eine bessere Ausbildung und höhere Löhne: „Als Erzieherin verdient man nicht schlecht, und dank der Streiks sind die Gehälter in den vergangenen Jahren gestiegen. Aber angesichts der Verantwortung, die man hat, ist es immer noch zu wenig.“
Und die Eltern? Haben auch sie ihren Anteil daran, dass Maria Specht ihren Beruf wechselt? „Es gibt solche und solche“, antwortet die Erzieherin. Natürlich bekomme sie als Fachkraft manchmal den Ärger ab, auch wenn sie nicht für die Missstände verantwortlich sei. Zum Beispiel, weil die Kita aufgrund der Personalsituation seit Februar und bis auf Weiteres bereits um 15 Uhr schließt. Viel mehr stört sie aber, dass Eltern immer wieder ihren Nachwuchs krank in die Kita schicken – nicht erst seit Corona. „Vielen scheint gar nicht bewusst zu sein, was das für das Kind und uns als Team bedeutet.“
Eltern seien mit der Erziehung ihrer Kinder zunehmend überfordert
Für eine andere Erzieherin aus Stuttgart, die anonym bleiben möchte, sind es vor allem die Eltern, die ihr den Arbeitsalltag schwer machen. Denn diese seien mit der Erziehung ihrer Kinder zunehmend überfordert, findet sie. Vielleicht, weil sie Familie und Beruf unter einen Hut bringen müssen und dabei nicht auf die Unterstützung der Großeltern zurückgreifen können. Die Folge seien immer mehr verhaltensauffällige Mädchen und Jungen. „Die Eltern sind unter Druck und halten die Konflikte mit ihren Kindern nicht mehr aus“, sagt die 48-Jährige. Viele Mütter und Väter würden viel zu schnell nachgeben, ihr Nachwuchs habe nie gelernt, ein Nein zu akzeptieren.
Das zeige sich in der Kita. „Bei uns in der Einrichtung gibt es eine wichtige Regel: Die Kinder dürfen nicht auf die Erzieherstühle. Jeden Tag wird diese Regel ungefähr zehnmal gebrochen“, nennt sie ein Beispiel. Und wenn sie zu ihrer Gruppe sage, dass jetzt Ruhe sein müsse, dann würden sich vielleicht fünf Kinder daran halten, während der Rest einfach weitermache. Bei Kita-Festen erlebe sie, wie die Kleinen einen Schokokeks nach dem anderen in den Mund schieben, ohne dass Mama oder Papa eingreifen. Verwundert ist die Erzieherin auch, wenn das Kind in der Kita sein Spielzeug noch wegräumen soll, bevor es nach Hause geht, das dann aber die Eltern erledigen, weil sie weder Zeit noch Nerven haben, um das mit ihrem Sprössling, der nicht aufräumen will, auszudiskutieren.
Ihrer Meinung nach führt dieses Verhalten der Eltern dazu, dass in der Kita keine Bildungsarbeit mehr geleistet werden könne. „Wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, die Kinder zu erziehen, weil sie zu Hause keine Grenzen gesetzt bekommen.“ Auch das soziale Miteinander gehe verloren. Als sie ein Elternteil angesprochen habe, ob das Kind angesichts der Notbetreuungslage früher abgeholt werden könne, habe sie zur Antwort bekommen: „Wenn sie mich darum bitten, mache ich das nicht. Dazu möchte ich eine schriftliche Anweisung von ihrer Chefin.“ So würden Kinder lernen: „Hauptsache ich“ – und zu kleinen Egoisten heranwachsen.
Auch die Räume machen der Stuttgarter Erzieherin die Arbeit schwer. Das Kita-Gebäude, in dem sie arbeitet, sei aus den 80er Jahren. Die Gruppenräume seien viel zu klein. Das führe zu Konflikten unter den Kindern, weil sie alle zusammengequetscht seien. „Populationsstress“ nennt das die 48-Jährige und ergänzt: „Wir versuchen, die Situation zu entzerren, wo immer wir können.“ So würden sich die Kinder in zwei Schichten umziehen, weil auch der Garderobenbereich viel zu eng sei.
Manche Umschuler würden mehr Arbeit machen, als dass sie helfen
Auch von manchem Umschuler ist sie genervt. Viele würden ihr mehr Arbeit machen, als dass sie ihr Entlastung bringen würden. Und obwohl sie kein pädagogisches Studium vorzuweisen hätten, bekämen sie oft eine ähnliche Bezahlung. „Das macht unseren Beruf kaputt. So entsteht der Eindruck: Jeder kann Kita. Das stimmt aber nicht.“ Die Eltern würden diese Situation akzeptieren, weil sie froh seien, überhaupt eine Betreuung für ihr Kind zu haben. „Eigentlich müssten die Eltern auf die Barrikaden gehen, sie sind unsere Lobby. Aber das tun sie nicht“, bedauert die Erzieherin.
Überhaupt wünscht sie sich mehr Wertschätzung und ab und zu ein paar nette Worte. Stattdessen werde sie immer wieder angepflaumt: Wo sind schon wieder die Hausschuhe für das Kind? Warum hat das Kind Mittagsschlaf gemacht? Solche Sätze bekomme sie oft zu hören. Im Gegensatz dazu erlebe sie nur selten Situationen wie neulich, als ein Vater nach einem kurzen Austausch gesagt habe: „Danke für das nette Gespräch.“
An einen Berufswechsel denkt die Stuttgarterin dennoch nicht. „Ich freue mich einfach, wenn ich mit den Kindern zusammensein kann.“ Und wenn diese mal kleine Egoisten seien, dann mache sie sich klar, „dass kein Kind von sich aus so ist“.
Bundesweite Studie macht Missstände deutlich
Personalunterdeckung
Gut die Hälfte (50,3 Prozent) der Kitaleitungen gab bei einer Umfrage an, dass in ihrer Einrichtung in den zurückliegenden zwölf Monaten in mehr als einem Fünftel der Betreuungszeit in Personalunterdeckung gearbeitet worden sei, also mit weniger Personal, als es die Vorgaben, etwa zur Gewährleistung der Aufsichtspflicht verlangen. Das ist eines der Ergebnisse der diesjährigen bundesweiten DKLK-Studie. Die Abkürzung steht für Deutscher Kitaleitungskongress, dahinter steht der Verband Bildung und Erziehung.
Stellenbesetzungen
In der Umfrage stimmten 95,9 Prozent der Kitaleitungen der Aussage zu, dass die hohe Arbeitsbelastung zu mehr Fehlzeiten und Krankschreibungen führe. 84,8 Prozent gaben an, dass sich der Personalmangel in den vergangenen zwölf Monaten verschärft habe und es noch schwieriger geworden sei, offene Stellen passend zu besetzen. Gut drei von vier Befragten (77,5 Prozent) räumten ein, dass der Träger heute Personal einstelle, welches vor Jahren wegen unzureichender Qualifikation nicht eingestellt worden wäre.
Von Alexandra Kratz