„Es war ein Befreiungsschlag“ - Nach fast 20 Jahren Ehe sagt Sebastian seiner Frau: „Ich bin schwul“
Sebastian S. (Name geändert), 48, empfängt in seiner Wohnung im Enzkreis. Aus dem großen Fenster sieht man hier von einer Anhöhe auf den Schwarzwald, drinnen klettert der junge Kater Fritz erst auf die Couch, dann auf den Besucher von der Zeitung. S. wohnt alleine hier, das erste Mal in seinem Leben, und holt eine Phase nach, die bei den meisten zur jugendlichen Selbstfindung gehört: Dates. Abende auf der Tanzfläche, bei denen man sich selbst vergisst. Leidenschaft. „Es ist wie eine Pubertät, die noch mal anfängt“, sagt Sebastian S.
Auf einem Tischchen steht ein Foto mit drei Kindern, am Bilderrahmen steht „You’re not alone“, du bist nicht allein. Es ist ein Hinweis auf sein früheres Leben: Es sind seine Kinder auf dem Foto, auf der Rückseite ist er mit seiner Frau drauf. Es zeigt die Familie, die es so nicht mehr gibt. Auch deswegen taucht S. hier nicht mit seinem echten Namen auf, die Familie soll geschützt werden.
In der Grundschule war dieser Moment mit dem Klassenkameraden
Es ist etwas mehr als ein Jahr her, dass Sebastian S. seiner Frau den Satz sagte, den er das erste Mal überhaupt aussprach: „Ich bin schwul.“ In der Geschichte, die er hier erzählt, geht es auch darum, ob er das nicht früher hätte wissen können.
Etwa damals in den 80er-Jahren, vierte Klasse Grundschule. Sebastian S. und sein Schulkamerad tragen kurze Sportkleidung. Sie reiben sich gegenseitig an den Oberschenkeln. Sebastian S. stellt sich vor, wie er die Hand weiter nach oben gleiten lässt, bis er den Penis seines Freundes berührt. Oder in den Jugendfreizeiten, als sich seine Fantasien auf die Jungs beziehen, mit denen er im Zimmer liegt. Als sein Bruder die Pornos auf dem Computer findet, die ganz ohne Frauen auskommen. „Ich bin doch nicht schwul“, sagt sich Sebastian S. immer wieder.
Die Geschichte von Sebastian S. zeigt, wie schwer es sein kann, sich seine Homosexualität einzugestehen und sie zu leben. Dass das Umfeld mitentscheidet, ob man schwul sein kann.
Bei Sebastian S. hat das etwa mit mit der evangelikal-charismatischen Freikirche zu tun, der seine ganze Familie angehört. Dort ist Sex eine eher ernste Sache und hat nur in der Ehe stattzufinden. Masturbieren? Geht nicht ohne schlechtes Gewissen. Das eigene Geschlecht begehren? Eine Sünde. Purity Culture, also Reinheitskultur, nennen das Menschen häufig, die solche Kreise hinter sich gelassen haben. Dass er sich für Jungs interessiert, werde schon wieder weggehen, denkt Sebastian S. in seiner Jugend.
Da war auch der Wunsch, gesellschaftlich anerkannt zu sein
Als S. 28 ist, lernt er eine Frau auf einer christlichen Freizeit kennen, sie verstehen sich gut. Etwas später übernachtet die Frau mal bei ihm im Elternhaus. Es ist freundschaftlich, trotzdem hat S. den Eindruck, dass sich die Frau in ihn verguckt hat. Er will ihr schon einen Korb geben, aber seine Mutter habe gesagt: „Wenn du dir das Mädle rausgehen lässt, bist du echt blöd“, erzählt S. heute. Bald steht ein Hochzeitstermin fest. Weil S. für ein Missionierungsprojekt nach Sambia musste, gibt es einen gewissen Zeitdruck.
Nach einem Gespräch mit einem evangelischen Psychologen erzählt S. seiner Frau, dass er auch auf Männer steht, das klingt nach halb-halb, nach Männern und Frauen. „Das war die maximale Wahrheit, die ich mir damals geben konnte“, sagt S. Am Tag vor der Trauung habe eine innere Stimme „Halt, Halt, Halt!“ geschrien, erzählt er.
Aber als die Unterschrift am Standesamt gesetzt war, habe er sich eben damit abgefunden. Und da sei eben auch der Wunsch gewesen, gesellschaftlich anerkannt zu sein, und er habe immer auch Kinder gewollt, sagt S. Bald darauf ist der erste Nachwuchs da.
Erst ein erotisches Abenteuer, dann Gewissensbisse
Vor sieben oder acht Jahren, er ist da um die 40, bekommt Sebastian S. einen Saunagutschein geschenkt. Kaum ist er in der Sauna, kommt ein Mann auf ihn zu und berührt ihn am Oberschenkel. Er geht immer wieder hin, hofft auf solche Begegnungen. Irgendwann berühren ein anderer Mann und er sich gegenseitig im Intimbereich.
Etwa ein Jahr später, er liegt schon mit seiner Frau im Bett, reibt ihn der Gedanke auf: Passen das, was ich fühle und was ich lebe noch zusammen? Er gesteht seiner Frau, was in der Sauna passiert ist. Seine Frau flüstert ihm ins Ohr: „Ich habe Angst, dass du mich verlässt.“ Er verspricht, das nie wieder zu machen. „Ich kann gut sein im Selbstbetrug“, sagt S. heute.
Immer wenn in dieser Zeit jemand das Wort „schwul“ ausspricht, hat Sebastian S. Angst, dass seine Homosexualität entdeckt wird. Er sorgt sich, für etwas aufzufliegen, was er sich selbst nicht eingesteht. In Anlehnung an den Autor Pierre Stutz sagt er: „Ich habe Kriege gegen mich selbst geführt.“ Das lässt ihn ausbrennen. 2022 muss er in seinem Job als leitender Beamter, der ebenfalls gerade schwierig ist, eine Pause einlegen.
Er vereinbart mit seiner Frau einen „Gay Day“
Im Januar 2023 ist Sebastian S. wieder in einer Sauna. Ein Mann duscht auffällig lange neben ihm. Sie gehen gleichzeitig aus der Sauna. Sebastian S. nähert sich ihm. Sie küssen sich, sein erster Kuss mit einem Mann.
„Für mich war das sehr intim“, sagt S. Er genießt es, das ausgelebt zu haben, fühlt sich frei, ein paar Tage lang meldet sich auch kein schlechtes Gewissen. Nur, um dann noch heftiger zuzuschlagen.
„Für mich war es ein Befreiungsschlag"
Er erzählt seinem Psychotherapeuten von seinen Abenteuern. Der habe gemeint, das Problem sei nicht, dass er Sex mit Männern haben möchte, sondern dass ihm das ein schlechtes Gewissen verursache, erzählt S. Er einigt sich mit seiner Frau auf einen „Gay Day“, einmal in zwei Wochen hat er einen Tag, an dem er unterwegs sein kann, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.
„Je mehr ich ausprobiert habe, desto mehr wurde mir klar, dass es nicht nur eine zusätzliche Spielart ist, sondern dass es um etwas Tiefgreifenderes geht“, sagt S. Was würde es bedeuten, wenn er es gegenüber seiner Familie ausspricht? „Du bist ein Zerstörer, wenn du das machst“, geht ihm durch den Kopf.
Im September 2023 ist S. bei einem Online-Treffen der „Schwulen Väter“, Männer, die eine Familie mit einer Frau gegründet haben und erst Jahre danach ihre Homosexualität öffentlich machen. Mit der Lebensgeschichte eines Mannes identifiziert er sich besonders stark, sie telefonieren noch eine Stunde. Danach geht er zu seiner Frau und sagt zum ersten Mal die Worte, die auch das Ende der Familie, die sie bisher war, bedeuten. In denen es ums Ausschließlich-schwul-sein geht.
Partnerin leidet unter dem Coming-out
S. sagt: „Für mich war es ein Befreiungsschlag. Für meine Frau ist es ungemein schwerer.“ Einmal, als es ums Ausziehen ging, sei sie kurz vorm Nervenzusammenbruch gewesen. Auch Studien zeigen, wie ein solches Coming-out die Partnerin belastet. Zu Wut und Trauer, Verzweiflung und Enttäuschung komme oft die Ungewissheit, ob die gesamte Beziehung nur ein Alibi war, heißt es etwa in einer Untersuchung des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) . Auch sei der Fokus oft auf die Person, die sich outet. Die Partnerin oder der Partner würde dabei oft untergehen, so eine häufige Kritik. Für Frauen in dieser Situation gibt es die Selbsthilfeplattform tangiert.de.
Seine Frau habe ihm gesagt, sie könne nicht einfach von Liebe auf Freundschaft umschalten, erzählt S. Sie habe ihn als Mann ihres Lebens bezeichnet. Sie würden sich gegenseitig stützen und gleichzeitig immer wieder in Konflikte geraten, sagt S. Beide Seiten suchen wohl noch ihre neuen Rollen. Die Kinder hätten es besser aufgefasst, sagt S. Die Tochter, das jüngste seiner Kinder, habe ihn umarmt und gesagt: „Ich hab dich doch lieb, wie du bist.“ Vor knapp zwei Wochen war die ganze Familie erstmals bei ihm in der Wohnung. Es habe sich vertraut angefühlt, sagt S. Nur sein Freund, den er seit drei Monaten hat, war noch nicht dabei.
Von Florian Gann