Der Unverwüstliche - Keith Richards überlebt uns alle
Es grenzt an ein Wunder, dass er noch aufrecht steht: Keith Richards, Gitarrist der Rolling Stones und Rock ’n’ Roll-Ikone, wird 80. Womöglich überlebt er uns alle.
Im Internet kursiert schon lange ein Foto von Keith Richards. Es zeigt den berühmtesten Rock-Gitarristen der Welt standesgemäß zerknittert, mit Fluppe im Mund, neben seinen Töchtern Theodora und Alexandra – zum Zeitpunkt der Aufnahme beides junge Frauen. „Das sind Keith Richards’ Töchter“, steht darunter. „Wenn sie mal sterben, erbt er alles.“
Schenkelklopfer wie diesen gibt es zuhauf, eine Auswahl: Keith Richards schläft mit den Beinen nach oben unterm Dachbalken. Für jede Zigarette, die auf der Welt gequalmt wird, nimmt Gott dem Raucher eine Stunde Lebenszeit und gibt sie Keith Richards. Ja, selbst der frühere US-Präsident Bill Clinton scherzte einst: Richards sei „außer Kakerlaken die einzige Lebensform, die einen Atomkrieg überleben kann“.
Der Witz ist klar: Wir müssen nun mal alle sterben. Alle bis auf einen, so scheint’s. Dieser harte Hund, der jede noch so giftige Substanz missbrauchte, dieses Stehaufmanderl mit Totenkopfring, das mit den Rolling Stones den Rock ’n’ Roll-Lifestyle erfand, es ist noch bei uns. Und womöglich, wer weiß das schon, wird Keith Richards uns alle überleben. An diesem Montag wird er erst mal 80 Jahre alt.
Eine Europa-Tournee der Rolling Stones bereits in Planung
Wie sich das gehört für einen wie ihn, ist ans Altenteil nicht zu denken. Das Comeback-Album der Stones, „Hackney Diamonds“, war die Sensation des Jahres, die Band hat angekündigt, kommendes Jahr durch Nordamerika zu touren. Hinter den Kulissen sollen bereits die Planungen für Europa laufen.
Ein langer Weg für den 1943 in der Grafschaft Kent geborenen Burschen. Seine Leidenschaft erbt das Einzelkind wohl vom Opa – Gus Dupree ist Jazz-Musiker, er bringt Klein-Keith die ersten Akkorde auf der Klampfe bei.
In der Schule lernt er Mick Jagger kennen – seinen Partner auf Lebenszeit (Beziehungskrisen inklusive). Es ist ein historischer Glücksfall, als die beiden sich 1961 im Bahnhof von Dartford begegnen und ins Gespräch über ihre Liebe zum Blues kommen – das nach Lennon/McCartney zweitwichtigste Songwriting-Gespann in der Geschichte des Pop ist geboren: die Glimmer Twins. Dabei ist Jagger der Zwilling, der stets die Kontrolle behält, Richards der schweigsame Rebell, der alle Grenzen missachtet.
Fans sind sich einig: Er ist die Seele der Stones. Klar: Jagger hat die Lippen, die Hüften, die Anmach-Sprüche. Aber dieser Kerl mit der schiefen Visage und der Fender-Gitarre sieht schon in den Sechzigern so aus, als würde er für diese Band über Leichen gehen. Der kometenhafte Erfolg habe ihn kalt erwischt, sagt er in der Doku „My Life as a Rolling Stone“: „Du bist 18, spielst den Blues, und nach wenigen Monaten versuchen die Frauen dir die Kleider vom Leib zu reißen und springen vom Balkon.“
Zum Heroin-Kauf nimmt er in den Siebzigern schon mal die Knarre mit
Richards prägt den Sound der Band. Seine perkussiven, auf einen offenen G-Akkord gestimmten Riffs ziehen Songs wie „Start me up“, „Honky Tonk Women“ oder „Jumpin’ Jack Flash“ unaufhaltsam wie eine Lokomotive in den Gehörgang. „Der Begriff Levitation beschreibt noch am ehesten das, was ich fühle“, schreibt er in seiner Autobiografie „Life“, „wenn ich merke, jetzt habe ich das richtige Tempo, und die Band folgt mir. Es ist, als ob man in einem Learjet abhebt. Als würden meine Beine den Boden nicht mehr berühren.“ Den Boden unter den Füßen verliert er spätestens Mitte der Siebziger – der Rummel um die Stones hat ihn zum hemmungslosen Junkie gemacht.
Fassungslos liest man in seiner Autobiografie, wie er sich einer lebenden Leiche gleich von seinem siebenjährigen Sohn Marlon auf Europa-Tour betreuen lässt: „Ein Haufen Grenzen – dabei wollten wir doch bloß nach München“, erinnert sich Richards. „Aber Marlon war voll bei der Sache. ,Noch 15 Kilometer bis zur Grenze, Dad.‘ Das war das Signal, um rechts ranzufahren, einen Schuss zu setzen und das Zeug loszuwerden.“ Er schläft mit Knarre unterm Kissen, verscheucht unliebsame Gäste mit Schüssen in den Boden, benutzt die Waffe bei heiklen Heroinkäufen.
Bei seinem Lebenswandel ist er auf das gleiche Schicksal abonniert, das so viele seiner Freunde und Kollegen bereits ereilt hat: allen voran Brian Jones, Namensgeber und Multiinstrumentalist der Stones. Das erratische Genie ertrank 1969 unter ungeklärten Umständen - jedenfalls aber zugedröhnt - in seinem Pool. Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison folgten wenig später. Besonders nimmt Richards der Tod seines Freundes Gram Parsons 1973 mit. Sein eigenes Überleben hat für ihn einen einfachen Grund: „Ich habe immer Drogen von höchster Qualität genommen.“
Erst als er 1977 in Kanada verhaftet wird und ihm bis zu 20 Jahre Gefängnis drohen, reift die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann – allerdings nicht etwa wegen seiner Gesundheit. „In Kanada wurde mir bewusst, dass ich die Band in Gefahr brachte“, erzählt er. Die Musik hat für ihn stets Priorität.
Und zwar nicht nur mit den Stones. Als Jagger in den Achtzigern Solo-Platten aufnimmt, versucht sich auch Richards mit neuen Begleitern, den X-Pensive Winos. Mit ihnen bringt er bis heute sporadisch Platten heraus. Ein Sänger im landläufigen Sinn ist er freilich nicht – auch wenn er als Schuljunge im Chor trällerte und sogar in der Westminster Abbey vor Königin Elizabeth II. auftrat. Sein heiseres Raunzen verleiht ausgewählten Liedern der Stones eine besondere Note – meist begleitet er aber Jagger. „Ich habe schon einen unglaublichen Sänger, und ich muss dafür sorgen, dass er Arbeit hat“, scherzt er.
Der Mann, der so viel Raubbau ab seinem Körper betrieb, ist besser gealtert als Kollege Mick Jagger
Lustig auch: Selbst wenn die Finger heute arthritisbedingt nicht mehr so flink übers Griffbrett rutschen und Frontmann Mick sich eisern im Fitnessstudio in Form hält – „Keef“ mit seinen bunten Klamotten und Kopftüchern ist erstaunlicherweise besser gealtert als sein asketischer Freund, der die 80 schon im Juli vollgemacht hat. Richards ist der coolere Opa.
Den Drogen hat er freilich längst abgeschworen: „Ich habe 2019 aufgehört zu rauchen und seitdem keine Zigarette angefasst“, sagte er dem „Telegraph“. „Heroin habe ich 1978 aufgegeben, Kokain 2006. Aber ich gönne mir immer noch gern gelegentlich einen Drink. Abgesehen davon versuche ich es zu genießen, nüchtern zu sein. Das ist eine einzigartige Erfahrung.“
Abschiedsgedanken hegt der unverwüstliche Halunke des Rock ’n’ Roll jedenfalls nicht. Er brauche die Musik einfach, sagt er: „Ich tu es nicht einfach des Geldes wegen. Ich tu es nicht für euch. Ich tu es für mich. Ich kann die Beine nicht hochlegen, nicht bevor ich den Löffel abgebe.“ Und weiß Gott, wann das sein wird..