Sucht: In Weilheim informieren Experten über Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt

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Vierzig Experten treffen sich auf Einladung des Gesundheitsamts in Weilheim, um über Schutzmaßnahmen für Kinder zu sprechen, die übermäßig digitale Medien konsumieren. © Gesundheitsamt

Das Tablet als Babysitter beim Staubsaugen, Telefonieren, Kochen. Das Handy selbstverständliches Utensil im Schulranzen von Grundschülern. Der Konsum digitaler Medien ist bei vielen Kindern und Jugendlichen ungesund. Experten beraten deshalb beim großen Sucht-Arbeitskreis in Weilheim.

Landkreis – Kinder tauchen häufig viel zu oft und ungefiltert in die digitale Welt ab. Mit verheerenden Folgen. Experten aus dem Landkreis Weilheim-Schongau berichteten darüber beim kürzlich stattgefundenen Treffen des großen Sucht-Arbeitskreises und zeigten auf, wie Problemen begegnet werden kann.

Medienabhängigkeit: In Weilheim informieren Experten über Schutzmaßnahmen für Kinder in der digitalen Welt

Dem Termin des Gesundheitsamts fernzubleiben war für die meisten der geladenen Gäste keine Option. Viel zu brisant ist das Thema „digitale Welten“ für Kinder- und Jugendärzte, Streetworker, Suchthilfe, Schulamt und Schulen aller Art, Gesundheitsamt, Fachklinik für Kinder und Jugend Hochried sowie die Polizei. 45 Vertreter am Tisch sind täglich mit dem Thema Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen konfrontiert.

Medienabhängigkeit: In Weilheim informieren Experten über Schutzmaßnahmen für Kinder in der digitalen Welt

Welche Inhalte Kinder und Jugendliche sehen und wie sehr ihnen manche schaden, zeigte Referentin Barbara Unterholzner auf. Sie ist Medienexpertin und systemische Therapeutin und führt die Praxis „Echt Mensch“ für Medienpädagogik und Beratung in Hohenfurch. Sie bietet neben Beratung auch Fortbildungen für Fachkräfte, Elternabende und Schülerworkshops an. „Medien wirken auf Kinder anders als auf Erwachsene“, sagt sie. Zudem seien Kinder und Jugendliche von ihrer Entwicklung noch nicht so weit, die Nutzung selbst regulieren zu können und sich vor den Risiken und Gefahren zu schützen. Studien zufolge zeige bereits jedes vierte Kind eine „riskante Mediennutzung“. Unterholzner rät, Kinder und Jugendliche in der virtuellen Welt zu begleiten. Sei es beim Computer-Spielen, in sozialen Netzwerken oder beim Streaming. „Je jünger sie sind, desto mehr Schutz benötigen sie“, so die Expertin. Kinder könnten sich dem Sog des unendlichen Angebots, dem Gruppendruck und dem Gefühl, einen Raum zu beherrschen und aktiv dabei zu sein, nicht entziehen. Kinder seien allein verloren in der bunten, grellen Welt, konsumierten zu viel und altersunangepasst, und litten am Ende möglicherweise an Konzentrations- und Lernproblemen, Gereiztheit, Aggressivität und Schlafproblemen. Zudem mangelt es ihnen häufig an der Fähigkeit, Kreativität zu entwickeln. Auch körperliche Leiden seien möglich – Kurzsichtigkeit und Übergewicht wegen des Bewegungsmangels. „Das Gehirn verliert die Fähigkeit, sich auf Langfristiges vorzubereiten oder eigene Spielideen zu haben“, sagt die Expertin. Deshalb rät sie Eltern, die sich Sorgen um das Nutzungsverhalten ihres Kindes machen, sich einen Einblick zu verschaffen in die Welt der Kinder, herauszufinden, wie häufig und - noch wichtiger -, welche Inhalte sie am PC, Tablet und Smartphone konsumieren. Eine „stabile Verankerung in der realen Welt“ sei für Kinder enorm wichtig, die Stärkung des Selbstwertgefühls und das Erlernen gesunder Stressbewältigungsstrategien. Kinder zur Medienmündigkeit zu erziehen, ist für Barbara Unterholzner das A und O. Kinder vertrauten den Eltern, wenn es darum geht, ihnen die Freiheit zu geben, mit der sie umgehen können.

Medienabhängigkeit: In Weilheim informieren Experten über Schutzmaßnahmen für Kinder in der digitalen Welt

Eltern brauchten im Gegenzug „mehr Hintergrundwissen“ über Empfehlungen von Experten, gefährliche Inhalte, Nutzungsgewohnheiten der Kinder und Gefahren wie beispielsweise die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht (Cybergrooming ). Ihr Appell an die Eltern: Gefährliche Inhalte sperren, Medien nicht als Babysitter oder Machtinstrument einsetzen und Empfehlungen folgen. Facebook sei beispielsweise erst ab 13 Jahren erlaubt, YouTube ab 18. Gut zu wissen ist für Eltern vielleicht, was Barbara Unterholzner aus Workshops an Schulen kennt: „Kinder nervt es, wenn die Eltern ständig am Handy sind oder wenn sie niemanden zum Spielen haben, weil alle ihre Freunde vor den Bildschirmen hängen.“ Im Durchschnitt verbringen Zwölf- und 13-Jährige sechs Stunden und 16 bis 19-Jährige zehn Stunden täglich in der digitalen Welt, sagt die Medienpädagogin, bei den Kleinsten von zwei bis drei Jahren sei es bereits eine Stunde am Tag.

Kriminalpolizeilicher Fachberater Simon Bräutigam klärt in Weilheim über Computerspiele auf

Wie schaffen es Computerspiele, Kinder und Jugendliche so stark zu binden? Darauf hat Simon Bräutigam, kriminalpolizeilicher Fachberater in Weilheim, eine Antwort: Es steckt ein Riesenmarkt dahinter. Das kleine Deutschland stehe beim Verkauf von Computerspielen im internationalen Vergleich nach China, USA und Japan auf Rang vier. Das macht ihn betroffen. Denn Zielgruppe von 91 Prozent aller Spiele seien Kinder und Jugendliche, sie bescherten den Konzernen Milliarden-Gewinne. Häufiger Medienkonsum sei für Kinder „verheerend“, so der Fachmann, „und wir ignorieren das einfach“. Die Medienflut nehme Kindern die Chance, ein naturbezogenes Leben zu führen, sagt der fünffache Vater. An die Eltern appelliert er: „Unternehmen Sie was mit ihren Kindern!“ Es könne nicht sein, dass eine Kindergarten-Leitung nicht gegen den Druck der Eltern ankomme, die forderten, dass ihre Kinder Tablets mit in die Einrichtung nehmen dürfen. Dabei werde nicht diskutiert, welchen Einfluss Medien auf Kinder haben. Eine Smartphone-freie Grundschule sei das mindeste, so Bräutigam, der von schmerzhaften Entdeckungen berichtet, etwa von Kinderpornografie auf Computern von Fünf- bis Siebenjährigen. „Eltern müssen sich durchsetzen“, fordert er die Erziehungsberechtigten auf, Kindern bei der Mediennutzung Vorgaben zu machen und diese auch zu kontrollieren. Zudem hofft der Fachberater auf einen Schulterschluss von Eltern, Schulen und der Politik, um Schaden von den Kindern abzuwenden. „Wir müssen uns zusammentun und ein Projekt entwickeln.“

Landratsamt Weilheim-Schongau will weitere Maßnahmen ergreifen zur Sucht-Prävention bei Kindern und Jugendlichen

„Wir bleiben dran am Thema“, das verspricht Dipl.-Sozialpädagogin Sonja Schütz, Suchtpräventionsfachkraft am Landratsamt Weilheim-Schongau. Sie hat die Veranstaltung für das Gesundheitsamt organisiert und sieht bei Gesundheitsförderung und Prävention „großen Handlungsbedarf“. Man wolle dem Wunsch der Teilnehmenden des Arbeitskreises nach einer frühen Präventionsmaßnahmen schon im Kindergarten Rechnung tragen und weitere Veranstaltungen anbieten für Eltern und jene, die mit Kindern arbeiten. Es gelte dabei, Eltern und Einrichtungen zu finden, die sich zusammentun, um Kinder vor ungesundem Medienkonsum zu schützen. Auch sie wünscht sich eine Smartphone-freien Grundschule. Befreundete Familien könnten für ihre Kinder gleiche Regeln einführen, schlägt sie vor und rät, bei der Mediennutzung den Empfehlungen von Experten mehr Bedeutung beizumessen. „Suchtprävention kann und sollte auch in der Familie gelebt werden“, so Schütz. Zum einen seien die Eltern immer Vorbilder – und könnten eben auch negative Vorbilder sein. Wenn der Suchtmittel-/Medienkonsum des eigenen Kindes zu hoch werde, sei es wichtig, hinter den Konsum von Suchtmitteln zu schauen. Nur schimpfen „Du bist zu viel am Handy“ bringe nichts. Viel wichtiger sei es, sich mit dem Kind die Gründe anzuschauen. „Dahinter kann so etwas stecken wie Einsamkeit, Frust, Stress, Gruppendruck und mangelndes Selbstbewusstsein.“ Dann sei es gut zu überlegen, was dem Kind als Alternative helfen könne, Zeit mit der Familie und Freunden, Vereinsleben, ein Haustier, Sport, Musizieren oder ein anderes kreatives Hobby. Und ganz wichtig, so Schütz: „Kinder und Jugendliche dürfen sich langweilen!“ Eine mediale Dauerbeschallung schade dem Gehirn.

Opfer sexualisierter Gewalt fällt die Rückkehr in den Alltag schwer

Constanze Off stellte den Anwesenden die Beratungsstelle des Vereins „Netz gegen sexuelle Gewalt“ mit ihrem Präventions- und Beratungsangebot vor und zeigte die innere Erlebniswelt von sexualisierter Gewalt Betroffener auf. Es ging um die Frage, was machen traumatische Ereignisse wie das Verschicken sexueller Nachrichten, Stalking und Vergewaltigung mit den Menschen. Betroffene seien durch die erfahrene Gewalt extrem belastet, was meist mit starken Scham- und Angstgefühlen, Ohnmacht, Lebensbedrohung, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Verwirrung verbunden sei. „Die Betroffenen, die zu uns kommen, können direkt als Opfer betroffen sein oder indirekt etwa als Helfer oder Angehörige“, erklärt Constanze Off. Oft falle es nach einem solchen traumatischen Ereignis schwer, das innere Gleichgewicht zurückzugewinnen und den Alltag aufzunehmen. Wie gut die sexuelle Traumatisierung überwunden werde, hänge von der betroffenen Person und der Reaktion des Umfelds und des Helfernetzwerks ab. Traurige Wahrheit sei, dass sich Betroffene bis zu sieben Menschen anvertrauen müssten, ehe sie Hilfe erfahren. „Diese Zahl zu reduzieren, durch einen wachsamen und Trauma sensiblen Umgang mit Betroffenen sollte unser aller Ziel sein“, so Constanze Off. Aufklärung, Beratung, Krisenintervention und wenn nötig auch eine Traumatherapie könnten helfen, den Betroffenen oft langwierige Leidenswege zu ersparen.  

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