Erziehungsexpertin - Was mit Kindern passiert, wenn ihre Eltern sie anschreien
"Wenn Eltern laut werden, hat das Kind das Gefühl, nicht gut genug zu sein, was zu langfristigen Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl führt. Die Dinge zu verändern und aufzuhören, laut oder unfair zu werden, ist wichtig, um das Vertrauen des Kindes in sich und in die Welt zurückzugewinnen", sagt Jana Alles. Als Coach unterstützt sie seit Jahren Eltern dabei, ihre Kinder ohne zu schreien und ohne Ausüben von Druck durch ihre Entwicklungsstufen zu begleiten. Sie weiß, dass solche Situationen auch für Eltern überwältigend sein können. Nachfolgend verrät sie, was im Kopf eines Kindes passiert, wenn die Eltern laut werden, und welche Lösungen es gibt.
Ein Gastbeitrag von Jana Alles:
Die unsichtbaren Wunden des Kindes
Wenn ein Kind von seiner Bezugsperson – der Person, die für sein Überleben verantwortlich ist und der es vollkommen ausgeliefert ist – angeschrien wird, zum Beispiel, weil das Kind nicht Zähne putzen will, einen Wutanfall hat oder versehentlich ein Glas Wasser umkippt, kann man sich leicht vorstellen, was in seinem Gehirn passiert: Gefühle wie Angst, Schrecken und Hilflosigkeit überwältigen das kindliche Gehirn. In dem Moment, in dem es angeschrien wird, verspürt es echte Angst. Diese Angst, der Schreck und das Gefühl der Hilflosigkeit können tief im System verankert bleiben und bis ins Erwachsenenalter nachwirken.
Das Kind ist meistens nicht in der Lage, das Erlebte zu verarbeiten. Um trotz der traumatischen Situation "weiterzumachen", wird das Geschehene wie in eine Schachtel gepackt und ganz hinten im Schrank verstaut, wo sie niemand sieht. So kann es nach einem Konflikt mit der Mutter aus dem Zimmer kommen, lächeln und ihr sagen, wie sehr es sie liebt. Dabei scheint all der Schmerz, den das Kind durch das Anschreien oder Erniedrigen erlitten hat, nicht zu existieren. Doch als Eltern zu glauben, alles sei wieder in Ordnung, ist gefährlich.
Die unterdrückten Gefühle können zu innerer Anspannung, verschiedenen Ängsten, Aggressionen, Schlafstörungen und einem dysregulierten Nervensystem führen. Das wiederum äußert sich beispielsweise durch Nägelkauen, am T-Shirt nuckeln oder Haaredrehen. Ein Zeichen für zu großen Druck zuhause kann darüber hinaus bewusst oder unbewusst eingehaltener Stuhlgang sowie unkontrolliertes Urinlassen sein. Diese Erfahrung konnte Jana Alles in der Zusammenarbeit mit über 200 Müttern machen. Aber die Auswirkungen sind nicht nur äußerlich sichtbar, sondern betreffen auch das Innere des Kindes. Es fühlt sich unsicher und sein Selbstwert und Selbstbewusstsein sinken, was langfristige Folgen hat.
Wie Kinder die Schuld bei sich suchen und langfristig darunter leiden
Kinder sind nicht in der Lage, die Emotionen und Reaktionen anderer Menschen zu reflektieren oder von sich selbst abzugrenzen. Sie beziehen jedes Verhalten auf sich und glauben daher, dass sie schuld sind oder etwas falsch gemacht haben. Das Ergebnis ist ein inneres Gefühl von: "Ich bin falsch." Die Wahrnehmung ihrer eigenen Person verändert sich und so verwandelt sich das einstige "Ich bin gut genug" in ein "Ich bin nicht gut genug."
Die Folgen: Kinder beginnen entweder, ihr Verhalten anzupassen, um den Erwartungen gerecht zu werden und nicht mit der möglichen Ablehnung in Berührung zu kommen oder sie rebellieren heftig, überschreiten Grenzen, zeigen Wut und Aggression. Manche Kinder ziehen sich auch zurück, was Eltern oft mit Aussagen rechtfertigen wie "Mein Kind wollte noch nie gern kuscheln" oder Ähnliches. "Doch das ist falsch", erklärt Jana Alles. "Körperliche Nähe ist ein Grundbedürfnis – nicht gerne kuscheln kann nicht sein. Aus meiner Erfahrung ist es so, dass Kinder, die nicht kuscheln, sich verschließen, um sich zu schützen. Nach unserer Arbeit mit den Frauen lassen die Kinder wieder Nähe zu – das zeigt, dass sie wieder in ihre Bezugsperson vertrauen."
Dieses Verhalten kann bereits im Kleinkindalter auftreten. Spätestens in der Pubertät ziehen sich viele Jugendliche dann endgültig zurück und lassen keine Verbindung mehr zu den Eltern zu, um sich selbst zu schützen. Denn angeschrien oder erniedrigt zu werden, tut weh. Dabei können sich Erwachsene in der Regel gut vorstellen, wie es wäre, wenn ihr Partner sie so behandeln würde – es würde sie verletzen. Man zieht sich zurück und fühlt sich nicht liebenswert und unsicher. Daher müssen Eltern erkennen, dass Anschreien, Druck ausüben, Bewerten, das Absprechen von Emotionen oder Liebesentzug ebenso Formen von Gewalt sind wie physische Gewalt – auch wenn sie keine sichtbaren blauen Flecken hinterlassen. In der Psyche des Kindes entstehen dabei Wunden, vergleichbar mit Rissen in einem Kristallglas.
Über Jana Alles
Mit "Smart Parents" bietet Jana Alles ein Coaching an, das an der Ursache der Wut der Mütter ansetzt. Gemeinsam mit den Müttern geht sie Schritt für Schritt auf die Suche nach der Ursache ihrer Glaubenssätze. Es geht darum, den Ur-Schmerz aus der eigenen Kindheit sowie der Ahnenreihe und darüber hinaus zu finden. Das Ziel ist, dass die Mutter ihre Kinder empathisch, bewertungsfrei und bedürfnisorientiert begleiten kann, damit das Kind mit Selbstwert und Selbstbewusstsein durchs Leben gehen und eine starke Verbindung zwischen Mutter und Kind entstehen kann. Mehr Informationen finden Sie hier.
Eigene Wunden heilen, um Kindern ein sicheres Umfeld zu bieten
Doch was ist die Lösung? Es ist wichtig, die Situation nicht länger zu verharmlosen. Viel zu viele Mütter denken, ihr Kind bräuchte keine perfekten Eltern und sie könnten demnach alles so weiterführen, wie es zuhause läuft und ändern nichts an ihrem Verhalten. Aber das Ziel sollte sein, bessere Eltern zu werden. Sie tragen die Verantwortung, Kindern ein sicheres Umfeld zu bieten, in dem sie sich gesund entwickeln können. Daher ist es entscheidend, sich selbst zu hinterfragen. "Warum schreie ich, drohe oder bewerte ich mein Kind?" Oft liegt die Antwort darin, dass Eltern selbst getriggert werden. Ihre eigenen Kindheitserfahrungen und unverarbeiteten Emotionen spielen dabei eine große Rolle. Diese gilt es aufzuarbeiten, denn das Verhalten des Kindes ist nicht der Grund, warum Eltern schreien oder unfair werden. Wenn Eltern ihre eigenen Wunden heilen, sind sie in der Lage, so zu reagieren, wie sie es wirklich möchten und wie sie es sich als Kinder selbst gewünscht hätten: einfühlsam, ruhig und angemessen.
In der Zusammenarbeit mit über 200 Müttern hat sich gezeigt: Wenn Mütter ihre eigenen Wunden aufarbeiten, verändert sich ihre Reaktion auf das Verhalten ihrer Kinder. Dadurch gewinnen die Kinder wieder Vertrauen ins Leben und in sich selbst, gehen besser mit ihren Emotionen um, schlafen besser, werden trocken, lassen Nähe zu, zeigen mehr Mut und entwickeln sich positiv zu selbstbewussten Menschen.