Kindheit in den Fünfzigern: Fotografin Heidi Fruhstorfer öffnet Bildarchiv

  • VonCornelia Schramm
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Zum 12. Geburtstag bekommt Heidi Fruhstorfer ihre erste Kamera geschenkt. Mit ihrer Agfa hält sie ab 1954 viele unvergessliche Erlebnisse fest. Ihr späterer Mann Georg Fruhstorfer hatte zu der Zeit schon länger als Fotojournalist gearbeitet und die Nachkriegszeit dokumentiert. Heute umfasst das Fotoarchiv des Paares rund 20.000 Bilder. Viele davon sind seltene Zeugnisse vom damaligen Alltagsleben der Menschen. Sie zeigen, wie nach dem Krieg die Trümmer weggeschafft und alles mühevoll wieder aufgebaut wurde. Ihre Bilder beweisen aber auch, wie die Lebensfreude zurückgekehrt ist. Die Kinder lernten ein Leben ohne Hunger, Bomben und Tod kennen. Diese Generation wuchs nicht in Saus und Braus auf, erlebte aber die ersten Weihnachten mit Lametta und Geschenken. 

München – Heidi Fruhstorfer hütet einen Schatz. Sie besitzt tausende Fotos – allesamt sind sie Zeugen längst vergangener Zeiten. Die 81-Jährige sitzt in ihrem Wohnzimmer in Ramersdorf und stöbert in einer Kiste voller Schwarz-weiß-Bilder. Bei manchen weiß sie, wer hier wann und wo aufgenommen wurde. Auf anderen bleiben die Menschen anonym.

Wie die zwei Kinder auf dem Foto, das Fruhstorfer aus einem ihrer zig Alben zieht. Das Mädchen im gestreiften Pullover umarmt einen Bub, der sich verlegen ein Stoff-Hündchen an die Wange hält. „Ich weiß nichts über sie, mag das Bild aber trotzdem sehr“, sagt Fruhstorfer. Wie unzählige andere Fotos stammt auch dieses vom Flohmarkt oder aus dem Sperrmüll. Oder es wurde Fruhstorfer oder ihrem Ehemann Georg (1915–2003) einfach mal als Teil eines Stapels alter Bilder geschenkt.

Der Schatz des Fotografen-Paares besteht heute aus 20 000 Bildern – aus eigenen Motiven, Bildern von Kollegen und jenen aus unbekannter Hand. Das Besondere: Sie zeigen den Alltag der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau und gesellschaftlichen Wandel, aber auch das Festhalten an Tradition und Brauchtum. Georg Fruhstorfer war damals schon als Foto-Journalist in München und Bayern unterwegs. Heute ist sein Foto-Archiv digitalisiert im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek.

Ein Teenie-Star aus Kochel am See: Sängerin Gabriele Clonisch sitzt umringt von Burschen auf einem Opel Rekord. Ihr Rock’n’Roll-Lied „Schokoladeneis“ verkaufte sich Ende der 1950er-Jahre 250 000 Mal.

Das war bei den Jugendlichen der 1950er-Jahre angesagt:

Lang bevor das Wort „Party“ Mode war, feierte man einen „Budenzauber“ in der heimischen Stube. Ein Glas Bowle und eine Radio-Sendung sorgten für Stimmung. Erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres durfte man auf Bälle gehen.

Nach der „Fresswelle“ kam die „Autowelle“: Für einen jungen Mann war das höchste der Gefühle, wenn er sein Mädchen mit dem eigenen Auto abholen durfte. Ab 1955 stellte BMW das Motorcoupé Isetta - auch „Knutschkugel“ genannt - her. Auch der Opel Rekord stand hoch im Kurs.

Heidi Fruhstorfer hat zum zwölften Geburtstag ihre erste Kamera geschenkt bekommen. Als Jahrgang 1942 schwelgt sie beim Stöbern in den Fotos in eigenen Erinnerungen. In ihrem neuen Bildband „Kindheit und Jugend in Bayern“ zeigt sie Fotos von Kindern in der Nachkriegszeit und den 1950er-Jahren – von ihrer eigenen Generation: „Je älter ich werde, desto wacher wird die Erinnerung an meine Kindheit. Die Fotos sind Zeitreise und Erinnerungsstütze in einem.“

München in der Nachkriegszeit: Familien wohnten beengt

Ein eigenes Zimmer voller Spielzeug gab es damals nicht. „Familien lebten sehr beengt. Das Leben von uns Kindern spielte sich eher auf der Straße ab.“ In Fruhstorfers Fall in der Kreittmayrstraße in der Münchner Maxvorstadt. Davor hatte ihre Familie in einer Baracke in der Thalkirchner Straße gelebt.

Wohnen und Hygiene in den 1950er-Jahren:

Wer auf der Straße beim „Strawanzen“ und Spielen war, musste sich abends die dreckigen Füße waschen. Ein eigenes Badezimmer mit fließend Wasser stand vielen kinderreichen Familien in den kleinen Wohnungen nicht zur Verfügung. In Mietshäusern befand sich die Toilette meist auf dem Gang. Im Kessel kochte man das Wasser für die schnelle Katzenwäsche im Zuber. Am nächsten Tag wusch die Mutter darin Kleidung und Laken.

Die Hausarbeit war hart - auch die Kinder mussten anpacken und kübelweise Wasser schleppen. Das „gute“ Gewand kam nur an Sonn- und Feiertagen zum Einsatz. Größten Wert legte man auf blitzblank geputzte Schuhe.

„Weil wir keine Puppe hatten, haben wir mit dem Baby der Nachbarin gespielt“, erzählt sie. Nach dem Krieg waren viele Häuser zerstört. Kinder spielten mit allem, was sie fanden. Das Viertel war ein Erlebnispark, während die Eltern am neuen Leben werkelten. „Strawanzen war unsere Lieblingsbeschäftigung“, sagt Fruhstorfer. „Wir waren eine bunte Truppe: Kinder von Münchnern, Ausgebombten, Geflüchteten und Heimatvertriebenen.“

Schule in den 1950er-Jahren: „Manche Lehrer waren brutal“

In der Schule ging es rauer zu. „Manche Lehrer waren brutal, sie hatten teils noch in der Kaiserzeit gelehrt.“ Wer am Ohrwaschl gezogen wurde, hatte Glück. Der Spanische Stock hat auf den Lederhosen der Buben laut geschnalzt. „Nicht denken, du sollst tun, was ich sage“, habe ein Lehrer mal erklärt. „Klar, dass die Jugend bald ihr eigenes Ding gemacht hat“, sagt Fruhstorfer.

So wild wurde in den Nachkriegsjahren gefeiert:

Nach den Zeiten des Hungers konnten Kinder zum ersten Mal ungezwungen feiern. „Feste arbeiten und Feste feiern“ war das Motto. Fasching war nie ausgelassener, heißt es. München mutierte zur Hochburg der Narrischen.

Aber auch auf dem Land lockte fast jedes Wirtshaus mit Bällen. Es gab die der Freiwilligen Feuerwehren, der sudetendeutschen Landsmannschaft, den Ball der Lehrer, der Metzger und Konditoren. Sogar Veteranen des Ersten Weltkrieges drehten sich zum Landler und Foxtrott. Bis „er“ kam: der Rock‘n‘ Roll. Die in Bayern stationierten Amerikaner entfachten mit Bill Haleys Songs ein echtes Tanzfieber.

Generation Schiefertafel: Tinte und Papier waren rar. Nur höhere Klassen arbeiteten mit teurem Material.

Generation Schiefertafel: Rechnen und Schreibenlernen ohne Papier

Lederhose ohne Laptop: In den bescheidenen Nachkriegsjahren lernten die Kinder Rechnen und Schreiben auf der Schiefertafel. Erst ab der dritten Volksschulklasse durften viele mit Bleistift und Papier arbeiten. Radiergummi, Anspitzer, Lineal und später Federhalter und Farbstifte waren teure Anschaffungen. In vielen Schulen war es auch gang und gäbe, dass Schüler im Winter Brennholz mitbringen mussten. Es gab nicht nur einen Tafel- auch einen morgendlichen Heizdienst.

Nach dem Krieg boten die Amerikaner Schulspeisungen an - es gab warmes Essen und Kakao. Für die Schulkinder von Fall in Lenggries im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen waren es besondere Jahre: Als der Sylvensteinsee aufgestaut wurde, wurde die alte Schule geflutet - und die neue in Neu-Fall bezogen.

Etwa in Sachen Mode. „Die erste Blue Jeans bekam ich mit 14. In der Schule durfte ich sie nicht tragen, da waren Mädchen in Hosen ungern gesehen.“ Auf Bergtouren hat sie den Rock sofort abgelöst. Zum Wandern radelte Fruhstorfer mit ihrer Schwester von München bis zum Blomberg – bis Freunde der Familie sich ein eigenes Auto anschafften und sie bei ihnen mitfahren durften.

Heidi Fruhstorfers Schwester beim Kraxeln in den Bergen. Erst später haben Blue Jeans den Rock abgelöst.

Was Heidi Fruhstorfer sieht, wenn sie die Bilder anschaut? „Große Bescheidenheit und Freude an den kleinen Dingen. Wir waren damals freiheitsliebend und unkompliziert. Zu jeder Schandtat bereit – aber auch höflich.“

Heidi Fruhstorfer: Bildarchiv dokumentiert Bayern in der Nachkriegszeit

Damit spricht sie einer ganzen Generation aus der Seele. Zwischen 1945 und 1960 passiert in Bayern viel: Zerstörte Städte werden wieder aufgebaut. Die Menschen, darunter Geflüchtete und Heimatvertriebene, müssen zurück in einen Alltag ohne Krieg finden. Nach Jahren voller Entbehrung bahnt sich der wirtschaftliche Aufschwung an. Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen und die ersten Kindergärten werden gebaut. Später können sich sogar viele eigene Autos kaufen.

Schuften im Nachkriegs-München: Kinder helfen den Erwachsenen beim Wiederaufbau ihrer Schule.

Kinder haben in dieser Zeit jede Veränderung mitgetragen. Als alles in Trümmern lag, packten sie mit an. Danach konnten die kleinsten Bürger eine Kindheit erleben, wie es nie zuvor möglich gewesen ist - Feste feiern, zur Schule gehen und sogar Ausflüge machen.

Ein Prinz und ein Fliegenpilz auf einem Faschingsball.

Die Verfassung des Freistaates von 1946 räumt Kindern mehr Rechte denn je ein: „Kinder sind das höchste Gut des Volkes“, heißt es im Artikel 125. „Sie haben Anspruch auf Entwicklung zu selbstbestimmungsfähigen und verantwortungsfähigen Persönlichkeiten.“ (sco)

Aufruf: Zeigen Sie uns Ihr schönstes Kinderfoto!

In der Nachkriegszeit und den 1950er-Jahren herrscht Aufbruchsstimmung. Auf Festen und Bällen aber auch beim „Budenzauber“ – so wurden früher Partys daheim genannt – wird wild gefeiert. Damals wird der Traum vom eigenen Auto wahr, damals schwappt der Rock‘n’Roll nach Bayern, Floßfahrten auf der Isar sind Mode, die Blue Jeans erobert die Klassenzimmer und die Presse berichtet über das „Fräulein-Wunder“.

Sie sind ein Kind der 1950er-Jahre? Zeigen Sie uns Ihr schönstes Foto aus der Zeit und erzählen Sie uns die Geschichte dazu! Kontakt: kindheit@merkurtz.de