Schulbegleiter: Pool-Lösung statt 1:1-Betreuung

Immer mehr Kinder brauchen Hilfe im Unterricht – und der Landkreis München geht neue Wege: Schulbegleiter im Pool statt 1:1-Betreuung. Das spart Kosten und macht die Unterstützung auch flexibler.
Landkreis – Auf Seite 54 im Mathebuch wartet Aufgabe 5c. Bitte alle aufschlagen und loslegen, sagt die Lehrerin. Die meisten Zweitklässler kramen sofort ihre Bücher aus dem Ranzen. Nur einer sitzt da, schaut träumerisch durchs Klassenzimmer und spielt mit seinem Radiergummi. Für ihn ist das kein Problem – neben ihm sitzt seine Schulbegleiterin. Sie wiederholt geduldig die Anweisungen, hilft Schritt für Schritt: „Hol dein Mathebuch raus. Schlag Seite 54 auf. Hol dein Heft. Jetzt fangen wir an.“ So schafft es auch der Bub mit ADS, dranzubleiben.
Inzwischen 140 Schulbegleitungen im Landkreis
„Er würde sonst vielleicht die ganze Stunde verträumen“, sagt Conny Scharnagl vom AWO-Kreisverband München-Land. Sie koordiniert mit ihren Kolleginnen Susanne Leis und Ilona Cordes inzwischen 140 Schulbegleitungen im Landkreis – vor 15 Jahren waren es im AWO-Kreisverband erst fünf.
Bedarf explodiert
Corona, zunehmender Medienkonsum, hoher Druck in vielen Familien – die Ursachen sind vielfältig. „Viele Eltern müssen ständig arbeiten, die Kinder sind in Betreuung. Zeit für ungeteilte Aufmerksamkeit fehlt oft, wenn abends noch der Haushalt wartet. Und es gibt oft keine Großeltern, die mal entlasten können“, erklärt Conny Scharnagl.
Kinder mit sozial-emotionalen Störungen
Hilfe brauchen nicht nur Kinder mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, für die der Bezirk Oberbayern die Schulbegleitung zahlt, sondern auch Kinder mit sozial-emotionalen Störungen, vor allem Autismus, ADHS oder soziale Schwierigkeiten, die den Einsatz nötig machen. Für sie ist der Landkreis München zuständig.
Kosten stiegen in nur fünf Jahren von 2,37 auf 5,46 Millionen Euro
2023 wurden 290 Kinder mit seelischer Behinderung im Landkreis München im Unterricht 1:1 begleitet. Allein an den beiden Sonderpädagogischen Förderzentren arbeiteten 53 Assistentinnen und Assistenten. Die Kosten stiegen in nur fünf Jahren von 2,37 auf 5,46 Millionen Euro.
Pooling statt 1:1
Um Kosten zu senken und mehr Kinder zu erreichen, setzt der Landkreis auf das sogenannte „infrastrukturelle Pooling“: Schulbegleitungen sind nicht mehr nur für ein einzelnes Kind zuständig, sondern für eine ganze Klasse. Das Modell wird seit einem Jahr an der Rupert-Egenberger-Schule in Unterschleißheim erprobt und soll ab Schuljahr 2025/26 auch an der Hachinger Tal Schule starten. Der Kreistag hat im Juli für Unterhaching 22 Assistenzkräfte und für Unterschleißheim 18 beschlossen und nach den Erfahrungen in Unterschleißheim zusätzlich für jedes der beiden Förderzentren zwei weitere Schulbegleitungen genehmigt. Der Landkreis investiert pro Jahr 1,69 Millionen Euro. Statt 60 Einzelbegleitungen braucht es für beide Schulen nun insgesamt 40 Kräfte – das spart rund 781 000 Euro pro Jahr.
Kinder fühlen sich weniger stigmatisiert
Doch der Vorteil ist nicht nur finanzieller Natur: „Kinder fühlen sich weniger stigmatisiert, als wenn sie mit einer Einzelbegleitung ins Schuljahr geschickt werden. Und die Begleitung kann flexibel helfen, wo sie gerade gebraucht wird“, erklärt Conny Scharnagl. Die 63-Jährige befürwortet das Pooling grundsätzlich, „allerdings mit differenziertem Blick und nicht mit einem geschlossenen Geldbeutel“.
Ziel: Selbständigkeit
Wichtig ist, dass die Chemie zwischen Kind und Schulbegleitung stimmt. Die Koordinatorinnen der AWO besuchen die Familie gemeinsam mit der Schulbegleitung zuhause, um zu schauen, ob es passt: „Es gibt Kinder, die haben Konflikte und können Regeln nicht einhalten, es gibt Kinder, die gehen über Tische und Bänke. Und es gibt Kinder, die sind sehr leise, kommen aber nicht zum Zuge, weil sie die ganze Zeit träumen“, erklärt Scharnagl. Die Aufgabe der Schulbegleitung sei es, ein Kind zu fordern, zu fördern und sich gleichzeitig entbehrlich zu machen.
Kinder mit Autismus schaffen Mittleren Bildungsabschluss, Abitur und sogar Studium
Denn das oberste Ziel ist: Kinder sollen durch die Unterstützung stark genug werden, um irgendwann ohne Schulbegleitung zurechtzukommen. „Wir haben Schulbegleiter, die seit zwölf Jahren im Einsatz sind und erlebt haben, wie Kinder mit Autismus den Mittleren Bildungsabschluss, das Abitur und sogar ein Studium schaffen und im Beruf ankommen“, sagt Scharnagl stolz.
Schulbegleitung eine Investition in die Zukunft
Ob laut oder leise, ob träumerisch oder impulsiv – mit der richtigen Unterstützung soll Schule für jedes Kind zum positiven Erlebnis werden. „Schulbegleitung ist eine Investition in die Zukunft“, sagt Scharnagl. „Denn Kinder müssen die Erfahrung machen: Ich kann etwas, und ich bin etwas.“