Deutschlands „größter Fehler“ während Corona trifft vor allem Kinder – Pädagogen erklären die Folgen

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Einsamkeit, die Kinder vorher nicht kannte: Im Corona-Lockdown traf es vor allem die jüngsten Schülerinnen und Schüler hart. Die Auswirkungen werden noch lange spürbar sein. © Montage: IPPEN.MEDIA; [M] Sok Eng Lim; Fotos: Thanos Pal/ Unsplash, Imago/ Chromorange, Imago/ Westend61

Deutschland griff während der Corona-Pandemie rigoros an Schulen durch. Ein Fehler mit Folgen? Die Auswirkungen sind komplex, aber sichtbar.

+++ 12. März 2020: Fast alle Bundesländer schließen Schulen und Kitas. +++

Frankfurt – Es war ein harter Schritt und möglicherweise einer der größten Patzer in der Pandemie. „Der größte Fehler war, dass wir mit den Kindern zum Teil zu streng gewesen sind“, sagt der damalige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im März 2024 dem Spiegel über die strengen Schulschließungen während Corona.

Schulschließungen während Corona: „Für Kinder war der Lockdown ganz harter Tobak“

Zweimal wurde während der Corona-Pandemie in den deutschen Schulen durchgegriffen. Laut einer ifo-Studie waren sie im Schnitt 183 Tage lang geschlossen – übergreifend ist das fast ein ganzes Schuljahr. Mit welchen Folgen?

„Für Kinder war der Lockdown ganz harter Tobak. Schule, Vereine, Sport – ihr ganzer Sozialbereich wurde dichtgemacht. Diese Erfahrungen fehlen jetzt“, sagt Lehrerverbandspräsident Stefan Düll bei IPPEN.MEDIA.

Stefan Düll ist Schulleiter am Justus-von-Liebig-Gymnasium in Neusäß und seit Juli 2023 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.
Stefan Düll ist Schulleiter am Justus-von-Liebig-Gymnasium in Neusäß und seit Juli 2023 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. © Andreas Gebert

Einfluss von Corona-Lockdowns auf Lernfortschritt unklar – „Psychologisch fallen die Folgen deutlicher aus“

Wie groß die Auswirkungen der Corona-Schließungen auf den Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler waren, dazu herrscht keine einheitliche Datenlage. In der Pisa-Studie 2022 schnitten deutsche Jugendliche so schlecht ab wie noch nie, der Einfluss des Lockdowns in den Jahren zuvor ist allerdings unklar. Düll spricht von einer mangelnden Aufmerksamkeitsspanne, die sich unter Kindern und Jugendlichen breitmacht. Aber: „Ob das jetzt an der Corona-Pandemie oder an der Mediennutzung während Corona liegt, lässt sich nicht sicher sagen. Auch Erwachsene sind mittlerweile immer mehr am Handy.“ Generell sei Schule ohnehin so angelegt, dass immer „ein bisschen was aus dem Lehrplan nicht stattfinden kann“, erklärt Düll. Man müsse die Basics vermitteln und das sei auch während der Pandemie gelungen.

Repräsentative Studien zum Lernstand vor und nach den Lockdowns gibt es nicht. Auch, weil keine Erhebung vor der Corona-Pandemie stattgefunden hat. Dramatisch waren die Auswirkungen von Distanz-Unterricht offenbar nicht, heißt es auch in der Pisa-Studie 2022. Es zeigen sich andere Probleme an deutschen Schulen.

Gerhard Brand, Bundesvorsitzender im Verband Bildung und Erziehung (VBE) betont bei IPPEN.MEDIA: „Psychologisch fallen die Folgen deutlicher aus.“

Gerhard Brand ist seit 2022 Bundesvorsitzender des Verbands für Bildung und Erziehung.
Gerhard Brand ist seit 2022 Bundesvorsitzender des Verbands für Bildung und Erziehung. © Klaus Bambach/VBE

„Auffällige Veränderungen“: Schülerinnen und Schüler seit Corona aggressiver – manche immer noch „Zimmerlinge“

„Wir sehen durchaus auffällige Veränderungen im Sozialverhalten. Schüler werden schneller und öfter aggressiv, Höflichkeitsformen sind eingeschränkter“, erklärt Brand. Auch Lehrerverbandspräsident Düll stellt fest: „Seit der Corona-Pandemie nehmen wir verstärkt Schüler mit psychischen Auffälligkeiten wahr.“

Was ist mit den Schülerinnen und Schülern in den Corona-Jahren passiert? Lockdown, alleine im Zimmer, die Welt stand kopf. „Die Anfangszeit war für Kinder vielleicht noch spannend, aber dann kam die psychische Belastung. Das hat einige brutal geschlaucht“, sagt Düll. Vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien, die zu Hause weniger Unterstützung erhalten konnten, hat es hart getroffen. Auch Grundschulkinder, die erst lesen und schreiben lernten, waren alleine vor dem PC verloren. „Das ist sehr ernüchternd gewesen“, erinnert sich der Lehrerpräsident. Unterschiede sind da, aber Düll betont: „Sicher ist: Getroffen hat es sie alle.“

Während der Pandemie hat sich der unschöne Begriff „Zimmerling“ etabliert. Eine Bezeichnung für ein Kind, das sein Kinderzimmer gar nicht mehr verlässt – Schule, Freunde, Freizeit, alles passierte im Lockdown vor dem Bildschirm. Brand stellt fest: „Manche haben nach Corona nicht wieder herausgefunden, ihr Leben findet immer noch online statt. Das ist nicht weg.“

IPPEN-Serie: Fünf Jahre Corona

In der Serie zum fünften Jahrestag der Corona-Pandemie spricht IPPEN.MEDIA mit Menschen, die die Pandemie aus verschiedenen Blickwinkeln erlebt, durchlebt und größtenteils noch lange nicht abgeschlossen haben. Auf der Suche nach Folgen, Lehren und der Aufarbeitung.

Kinder seit Corona-Jahren mit mehr Sorgen und Ängsten – „Die heile Welt ist abhandengekommen“

Jetzt ist der Lockdown lange vorbei, aber Ängste auch bei denen, die wieder im echten Leben angekommen sind, immer noch spürbar. „Die heile Welt ist abhandengekommen“, sagt Brand. Und das liegt bei weitem nicht alleine an der Pandemie, da sind sich der VBE-Vorstand und Lehrerpräsident Düll einig. Es folgten Konflikte in der Ukraine und Gaza, außerdem besorgt der voranschreitende Klimawandel viele jungen Menschen enorm. Die Sorgen der Kinder sind größer geworden, die politische Debatte rauer. Und das geht – anders als viele glauben – auch an Heranwachsenden nicht spurlos vorbei. „Wir spüren: Den Kindern fehlt Halt“, erklärt Brand.

Jugendliche sind pessimistischer als früher. Warum zeigt sich das Phänomen bei ihnen stärker als unter Erwachsenen? Lehrerpräsident Düll meint: „Jungen Menschen fehlt die Lebenserfahrung, dass lange Phasen auch gut laufen.“

„Corona-Pandemie war eine Ausnahmesituation“: Keine Vorwürfe, auch wenn Fehler passiert sind

Alles schlecht ist auch während der Corona-Pandemie nicht gelaufen. Und selbst wenn Fehler passiert sind, betonen VBE-Vorstand Brand und Lehrerpräsident Düll, niemandem einen Vorwurf machen zu wollen. Brand sagt: „Die Corona-Pandemie war eine Ausnahmesituation und man wusste nicht, was die Konsequenzen einzelner Entscheidungen sein werden.“

„Heute kann man die Schulschließungen durchaus als Fehler bezeichnen. Damals wusste man es aber eben nicht besser“, sagt Düll. Die Entscheidung sei hart gewesen, habe damals aber eine Logik gehabt. „In dem Moment waren Schulkinder keine entscheidenden Konsumenten oder Steuerzahler und schon gar keine Wähler.“

Eine Homeschooling-Regel bezeichnet Düll hingegen als „das Dümmste, was die Politik entschieden hat“. Aus Datenschutzgründen durften Schülerinnen und Schüler ihre Kameras während der Unterrichtsstunden ausschalten. Lehrer sahen dunkle Kacheln im Chatroom, anstatt der gewohnten Gesichter. „Gegen eine ‚Schwarze Wand‘ zu sprechen, hat vielen Lehrenden schwer zu schaffen gemacht. Das war wahrlich deprimierend“, erinnert sich der Lehrerpräsident. Mittlerweile wurden die Schulordnungen angepasst, künftig darf im Distanzunterricht ein Bild verlangt werden. Immerhin haben die Lehrkräfte, die während des Lockdowns in großer Zahl mit psychologischen Problemen gekämpft hatten, die Pandemie laut Brand mittlerweile gut verkraftet. An gesundheitlichen Problemen leiden manche hingegen bis heute.

Corona-Folgen an Schulen: „Es hat verrückte Dinge gegeben und die muss man aufarbeiten“

Jugendliche mit großen Sorgen, Kinder mit Aggressionen. Was ist jetzt, fünf Jahre nach der Corona-Pandemie, zu tun? „Es hat verrückte Dinge gegeben und die muss man aufarbeiten“, meint Lehrerpräsident Düll. Dazu gehören, so VBE-Chef Brand, Programme zur Lernförderung und sozialem Miteinander.

In verschiedenen Formen gibt es die bereits und sie zeigen Wirkung. Das sind zum Beispiel Sommercamps oder betreutes Lernen. „Programme wie ‚Lernen mit Rückenwind‘ helfen enorm“, lobt Brand und wünscht: „Ich hoffe sehr, dass die Mittel weiter zur Verfügung gestellt werden. Wir sind noch lange nicht durch. Es braucht Pädagogen und Sozialarbeiter in den Schulen für die Kinder. Wir können das nicht alleine auffangen.“

„Mit den Auswirkungen der Lockdowns werden wir noch lange zu tun haben.“

Düll hofft, dass Deutschland künftig besser auf eine vergleichbare Ausnahmesituation vorbereitet sein wird. „Im Sommer 2020 war man blauäugig“, hält er fest, „eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Modellen für den Unterricht hat nicht stattgefunden. Konzepte wurden immer erst entwickelt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Im Nachgang hat vieles etwas von Slapstick.“ Diese Fehler anzuprangern, nutze aber nichts. Stattdessen empfiehlt Düll: „Es wäre logisch, Fehler aufzuarbeiten und jetzt einen Pandemie-Plan zu erstellen.“

Deutschland muss Corona-Fehler aufarbeiten und Schülerinnen und Schüler nachhaltig unterstützen, plädieren VBE und Lehrerverband. Für Brand besteht kein Zweifel: „Mit den Auswirkungen der Lockdowns werden wir noch lange zu tun haben.“ (moe)

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