Gastbeitrag - Unsichtbare Helden der Pflege: Warum pflegende Angehörige endlich Anerkennung verdienen
Über vier Millionen Menschen in Deutschland sind auf ambulante Pflege angewiesen, und mehr als die sechzig Prozent von ihnen wird ausschließlich von Angehörigen betreut. Hochrechnungen zufolge sind bis zu zehn Millionen Menschen in Deutschland an der Pflege von Angehörigen beteiligt. Darunter vor allem Frauen, die ihre beruflichen Karrieren einschränken oder ganz aufgeben, um ihre Liebsten zu versorgen. Sie stellen über zwei Drittel der pflegenden Angehörigen und müssen dafür oftmals ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihren Beruf ganz aufgeben. Ihre Entscheidungen und die Inkaufnahme von Entbehrungen sind keine freie Wahl, sondern blanke Notwendigkeit.
Diese unsichtbaren Helden sind das Fundament der häuslichen Pflege – ein Fundament, das unter der Last einer überalternden Gesellschaft und eines überforderten Pflegesystems zunehmend bröckelt. Doch ihre Arbeit bleibt unbezahlt, ihre Belastung unterschätzt, ihre Stimme ungehört. Es ist höchste Zeit, dies zu ändern.
Pflegende Angehörige entlasten nicht nur das chronisch überforderte Gesundheitssystem, sondern schaffen auch den Raum für eine Form der Pflege, die im familiären Umfeld oft persönlicher und würdevoller ist.
Zwischen Liebe und Überlastung: Das Leben pflegender Angehöriger
Pflegende Angehörige leben zwischen tiefer Hingabe und ständiger Überforderung. Sie opfern Zeit, Gesundheit und Einkommen für ihre Liebsten – ohne Pausen, ohne Urlaub und ohne Gehalt. Vom Heben, Lagern und Waschen bis zur Organisation medizinischer Maßnahmen sind pflegende Angehörige mit Aufgaben konfrontiert, die nicht selten ihre physischen Grenzen überschreiten. Dazu kommen die emotionalen und psychischen Herausforderungen: die ständige Sorge, die Traurigkeit über die Hilflosigkeiteines geliebten Menschen und die Verantwortung, Entscheidungen zu treffen, die oft medizinische Expertise erfordern.
Die Auswirkungen sind gravierend. Studien zeigen, dass pflegende Angehörige ein erhöhtes Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen tragen. Chronische Schmerzen, Burnout und Depressionen sind keine Seltenheit. Und während professionelle Pflegekräfte zumindest in begrenztem Umfang geschult und arbeitsrechtlich abgesichert sind, fehlt Angehörigen oft beides.
Besonders fatal ist, dass viele dieser Belastungen ohne angemessenen Schutz eingehen. So sind beispielsweise Schulungen und Ressourcen, die aufzeigen, wie man Infektionen beim zu Pflegenden wie auch beim Pflegenden selbst vorbeugen könnte, schwer zugänglich. Pflegende Angehörige arbeiten am Limit – ohne Netz und doppelten Boden.
Die unsichtbare Hürde: Bürokratie als Belastung
Als wäre die Pflege selbst nicht schon belastend genug, müssen Angehörige sich durch ein bürokratisches Labyrinth kämpfen. Formulare sind komplex, die Verfahren undurchsichtig, und die Bearbeitung von Anträgen dauert oft Wochen oder Monate. Diejenigen, die sich um die Versorgung ihrer Liebsten kümmern, stehen vor Hürden, die oftmals von staatlichen Stellen selbst geschaffen wurden.
Eine gerechte und zugängliche Pflege erfordert hier dringend Reformen. Digitale Prozesse, Abbau von Bürokratie, zentrale Anlaufstellen und klare Strukturen könnten den Weg zu Pflegehilfsmitteln, finanzieller Unterstützung und Entlastungsangeboten erheblich vereinfachen.
Pflegearbeit macht arm: Ein Systemversagen
Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind nicht minder alarmierend. Viele pflegende Angehörige müssen ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihr Arbeit ganz aufgeben. Dadurch verzichten sie nicht nur auf Einkommen, sondern auch auf Rentenansprüche – ein Verzicht, der oft in Altersarmut mündet.
Das Pflegegeld, das sie erhalten, ist weit davon entfernt, die tatsächlichen Kosten oder den Verlust des Einkommens auszugleichen. Pflege bleibt in Deutschland weitgehend unvergütete Arbeit. Das ist nicht nur ungerecht, sondern ein Affront gegenüber Menschen, die einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesellschaft leisten.
Pflege stärken, Menschen entlasten: Ein Appell an die Politik
Es ist Zeit, dass die Politik Verantwortung übernimmt. Die häusliche Pflege ist keine Nische, sondern mittlerweile das Rückgrat unseres Systems. Und dieses Rückgrat steht vor dem Zusammenbruch, wenn die Unterstützung nicht massiv ausgebaut wird.
Die Lösungen liegen auf der Hand:
1. Finanzielle Entlastung: Pflegegeld muss existenzsichernd sein. Steuererleichterungen und eine bessere Absicherung in der Rentenversicherung sind unverzichtbar.
2. Zugang zu Ressourcen: Angehörige brauchen kostenlosen Zugang zu Pflegehilfsmitteln und verpflichtende Schulungen, um die Pflege sicherer und nachhaltiger zu gestalten.
3. Entlastungsangebote: Flexible Arbeitszeitmodelle, bezahlte Freistellungen und der Ausbau ambulanter Dienste sind entscheidend, um pflegende Angehörige zu unterstützen.
4. Abbau der Bürokratie: Antragsverfahren müssen transparent, digital und unbürokratisch gestaltet werden, um die Menschen zu entlasten, die mit am meisten für da System leisten.
Ohne Angehörige bricht das System zusammen
Die Pflege in Deutschland steht vor einer Zeitenwende. Die demografische Entwicklung sorgt dafür, dass immer mehr Menschen pflegebedürftig werden, während der Fachkräftemangel die Kapazitäten weiter einschränkt. Ohne die Angehörigenpflege würde das System schon heute kollabieren, die Zukunft sieht noch viel düsterer aus.
Pflegende Angehörige können nicht länger allein die Verantwortung tragen. Die Politik muss anerkennen, dass Pflege keine private Aufgabe ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche und volkswirtschaftliche Herausforderung. Es geht um Gerechtigkeit – gegenüber denjenigen, die pflegen, und gegenüber denen, die Pflege benötigen.
Zeit für einen Wandel
Deutschland hat die Möglichkeit, ein neues Kapitel in der Pflegepolitik aufzuschlagen. Mit gezielten Reformen und einem klaren Bekenntnis zur Unterstützung pflegender Angehöriger könnte das Land zeigen, dass Würde, Solidarität und Fürsorge mehr sind als bloße Worte.
Es ist an der Zeit, die unsichtbaren Helden der Pflege sichtbar zu machen – und ihnen die Anerkennung und Unterstützung zu geben, die sie verdienen.
Unser Gastautor: Der gebürtige Österreicher Christian Graggaber, verheiratet und Vater eines Kindes, ist Geschäftsführer von Prosenio. Das Unternehmen mit Standorten in Berlin und Augsburg gilt seit Gründung im Jahr 2009 als wichtiger Ansprechpartner für Pflegende Angehörige. Graggaber erhebt für Pflegende Angehörigen immer wieder lautstark seine Stimme, weist auf ihre schwierige Situation hin und gilt als Anwalt für die Kranken und ihre Angehörigen. Der Manager lebt mit seiner Familie in München.