Blaue Hochburg in Prenzlauer Berg - „Die neue Regierung hat zwei Jahre, dann wählen hier alle AfD“
Auf der linken Seite der Greifswalder Straße in Richtung Norden entspricht alles dem Prenzlauer-Berg-Klischee: Coffeeshops im Altbau mit Mid-Century-Möbeln, die Grünen lagen bei der Bundestagswahl bei 26 Prozent, die AfD bei acht Prozent. Auf der rechten Straßenseite gibt es „italienische und mexikanische Spezialitäten“ zwischen Plattenbauten. Hier im Wahlbezirk 906/920 ist die AfD mit 22 Prozent Zweitstimmen stärkste Kraft geworden. Die Grünen nahmen nur knapp die Fünf-Prozent-Hürde.
Der Stimmbezirk, begrenzt durch die Storkower Straße und Michelangelostraße, ist die einzige AfD-Insel im links-grünen Stadtteil. Und der gesamten Innenstadt, wenn man den 100 Meter von der S-Bahn entfernten Kiez noch großzügig dem Ring zuschlagen will. Ähnliche Wahlergebnisse gibt es erst wieder am Stadtrand. Allerdings sieht es hier im Mühlenkiez auch aus, wie die meisten Menschen sich wohl Marzahn vorstellen.
Zwischen DDR-Garagen sitzt eine gesprächige Runde in der „Pieskower Lounge“. „Wo die AfD gewählt wird, herrscht Ordnung“, meint Gerda, die ihren echten Namen nicht veröffentlichen will, und verweist auf Städte in Brandenburg: „Hier herrscht ein richtiger Saustall.“ Die Rentnerin trägt einen Mantel mit Leopardenmuster, Armringe und Kette aus Perlen.
Es werde nichts mehr investiert und die Hälfte der Grünflächen sei verwildert. Im Beet vor der Schule wird Müll abgeladen. Was im Kiez noch fehle? „Eine vernünftige Kneipe“ – lautes Lachen in der Runde. Früher habe es mehr Kneipen gegeben und überhaupt sei mehr Bier getrunken worden. Bier trinkt an diesem sonnigen Nachmittag hier dennoch jeder.
Auch die Linke genießt hier Sympathien
Gerda findet auch die Linken gut, Gregor Gysi würde endlich wieder soziale Themen ansprechen. Doch „die politische Stimmung ist scheiße. Nichts passiert, die Politiker sind nur im Ausland. Ich kann es niemand mehr verdenken, wenn er AfD wählt“, sagt sie, die seit 40 Jahren hier wohnt. Früher kostete ihre Zwei-Zimmer-Wohnung 86 Ostmark, heute 460 Euro. Umziehen ist unmöglich: „Mich müssen die hier raustragen.“
Die Alten würden sterben und dafür kämen viele Ausländer. „Wo sollen die alle hinziehen? Der Eimer ist am Überlaufen.“ „Und was ist mit mir?“, wirft Hüseyin Bayar ein – wieder Lachen in der Runde. Er betreibt die Kneipe, lebt seit 27 Jahren in Neukölln, kommt aus der Türkei. Ein Foto in seiner Bar will er nicht, „denn mich kennt doch eh jeder“. Jahrelang hat er hier Wahlkampfveranstaltungen der CDU und SPD unterstützt, doch darauf hat er keine Lust mehr.
Auch Hüseyin ist enttäuscht: „Wir brauchen Fachkräfteeinwanderung – und zwar in den Bundestag.“ Vor allem ist er gegen Waffenlieferungen. „Egal wen man wählt, Waffen werden an Israel geliefert. Bürgergeld bleibt im Land, doch die Waffen sehen wir nie wieder.“
Die Situation im Kiez hat sich verschlechtert
Das klingt auch nach BSW, das kommt hier auf elf Prozent, mehr als in ganz Berlin. Überhaupt sieht man viele Linken-Wahlplakate und solche mit Karl-Marx-Kopf. Dafür wenige der AfD, obwohl diese doch offenbar beim ehemals linken Klientel punkten kann. Zur letzten Bundestagswahl waren die Grenzen des Wahlbezirks noch andere, doch damals kam die SPD auf 32 Prozent. Die AfD folgte mit 14 Prozent auf Platz drei.
Die sozio-ökonomische Situation ist tatsächlich schlechter geworden. Im Berliner Gesundheits- und Sozialstrukturatlas 2022 landet der Kiez Greifswalder Straße auf Rang 326 von 428. Bis auf die Jugendarbeitslosigkeit haben sich alle Indikatoren verschlechtert, „vor allem bei der vorzeitigen Sterblichkeit“, konstatiert der Bericht.
„Der neuen Regierung gebe ich zwei Jahre, dann wählen hier alle AfD“, ist Gerda überzeugt. Hüseyin glaubt nicht, dass die Partei jemals über 25 Prozent kommen wird. Er zeigt einen Zettel mit einer privaten Wahlwette, bei der er der Partei 21 Prozent vorhergesagt hatte. Viele Menschen beschwerten sich hier, würden aber am Ende doch nicht Rechtsaußen wählen.
So schlecht ist es um den Kiez auch nicht bestellt. Es gibt Kneipen, Imbisse, Kitas und Sportanlagen. An einem der zwölfstöckigen Plattenbauten prangt ein riesiges Street-Art-Wandgemälde. Dazwischen kleinere Häuser mit ordentlichen Vorgärten und ein Stand mit thüringischer Bratwurst. In der Stadtteilbibliothek lernen Studenten neben einem Lesetisch zum Frauenkampftag.
Auf der linken Straßenseite wohnt eine ganz andere Klientel
Auf der „linken“ Seite der Greifswalder gibt es sanierte Altbauten und Yogastudios. Vor der Trattoria wird Espresso getrunken. „Ich geh’ eigentlich nur auf die andere Seite zum Edeka. Viel gibt’s da ja nicht“, sagt Anja. Sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und Brille, lebt und arbeitet im Kiez. In der aufgeheizten Stimmung möchte sie ihren echten Namen nicht nennen. Sie kannte das Wahlergebnis der gegenüberliegenden Seite nicht, ist jedoch wenig überrascht.
Ihr macht Angst, „wie die Grenze des Sagbaren sich verschiebt“. Ausländerfeindliche Pöbeleien und Beschwerden über LGBTQ-Flaggen gebe es inzwischen auch hier, „vor dem AfD-Hoch musste man dafür noch nach Köpenick fahren“. Für sie ist es Politikversagen, dass die Greifswalder Straße hier soziale Gruppen so scharf voneinander trennt wie sonst wohl kaum in Berlin.
Dabei sei die Siedlung auf der anderen Straßenseite im berlinweiten Vergleich gar nicht besonders sozial schwach, sondern immer noch kleinbürgerlich. Menschen mit Migrationshintergrund sehe sie wenige, Rentner dafür viele: „Zu DDR-Zeiten waren das teilweise Wohnungen für die Elite“, gibt sie zu bedenken: „13. Stock, sechs Zimmer, Riesenbalkon und gute Lage. Wer zieht da heute schon aus?“
In einem Restaurant nebenan hat man mehr Kontakt „zur anderen Seite“. Vor allem alte Leute kommen zum Essen herüber „und freuen sich zu reden. Das können viele ja sonst nur beim Arzt“. Um Politisches gehe es dabei allerdings kaum und man wolle auch keine Kundschaft vergraulen: „Wenn man über Politik redet, ist der nette Abend schnell vorbei.“
Von Tristan Fiedler
Das Original zu diesem Beitrag „Die neue Regierung hat zwei Jahre, dann wählen hier alle AfD" stammt von Tagesspiegel.