„Ich wog 28 Kilo, hätte jederzeit sterben können“ – heute läuft Johannes (27) Ironman

FOCUS online: Ihre Geschichte klingt unglaublich. Im Jahr 2019 haben Sie gerade mal 28 Kilo gewogen und waren dem Tod näher als dem Leben. Wenige Jahre später absolvierten Sie Ihren ersten Ironman. Wie passt das zusammen?

Johannes Claudio Bambas: Am Anfang gar nicht. Ich musste erst verstehen, dass Leistung ohne Gesundheit nicht funktioniert. Mein erster Ironman war 2023. Inzwischen habe ich mehrere Ironman absolviert und trainiere auch für „Hyrox“, ein ziemlich gehyptes Wettkampfformat mit 8 mal 1000 Metern Laufen plus acht funktionellen Kraft-Ausdauer-Workouts.

Das sind extreme sportliche Leistungen, die Sie erbringen. Beim ersten Ironman haben Sie sich sogar für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Erst fast tot, dann in der Königsklasse des Ausdauersports erfolgreich… 
Bambas: … ich weiß, was Sie denken. Von einem Extrem ins andere. Das sagen viele.

Was sagen Sie?

Bambas: Ich bin kein Mittelmaß-Mensch. Das entspricht einfach nicht meiner Persönlichkeitsstruktur. Der Unterschied  zu früher ist, dass ich heute mit meinem Körper arbeite, statt gegen ihn. Und ich habe viel reflektiert. Über Ursachen, Muster und Verantwortung. Das schützt mich.

Was war rückblickend die Ursache der Magersucht?

Bambas: Um eines gleich vorwegzunehmen: Meine Eltern waren jedenfalls nicht das Problem. Leider ist man bei uns in Deutschland sehr schnell dabei, hier zu pauschalisieren. Ich hatte eine Bullerbü-Kindheit. Viele Freunde, nette Nachbarn, gute Umgebung. Von meinen Eltern habe ich mich immer geliebt und unterstützt gefühlt. Und, nein, ich war auch kein Mobbing-Opfer.

Aber irgendetwas muss doch dazu geführt haben, dass Sie erkrankt sind?

Bambas: Essstörungen sind komplex. Noch vor meinem zehnten Lebensjahr ging es los. Das ist vergleichsweise früh, für einen Jungen erst recht. Bei mir kamen wohl genetische Veranlagung, ein gewisser Hang zum Perfektionismus und eine hohe Sensibilität zusammen. Ich habe Dinge oft überinterpretiert, wollte besser sein als andere, wollte Kontrolle. An manchen Tagen habe ich nur einen Joghurt und einen Apfel gegessen, mehr nicht. Später gab es Tage, da habe ich gar nichts gegessen, nur getrunken.

Hat Ihre Eltern das nicht besorgt?

Bambas: Natürlich. Sie sind mit mir zum Arzt. „Das wächst sich aus“, hieß es am Anfang. Ich habe schon immer viel Sport gemacht. Tennis, Schwimmen, Leichtathletik. Er verbrennt eben viel, das war die Theorie. Aber irgendwann war klar: Es ist mehr. Meine Eltern haben dann verschiedene Therapieformen mit mir ausprobiert. Mit elf war ich zum ersten Mal in einer Klinik. Und im nächsten Jahr gleich noch mal. Beide Male war ich mehrere Monate weg von zu Hause. Ich habe in der Zeit nicht an der Schule teilgenommen, konnte aber nach meiner Rückkehr genau da weitermachen, wo die anderen standen.

Und sonst? Hat sich Ihr Zustand durch die Klinikaufenthalte gebessert?

Bambas: Nicht wirklich. Ich hatte zwar ein paar Kilo zugenommen, war aber weiter extrem instabil. Wie wenig die Therapie letztlich bewirkt hat, zeigt sich schon alleine dadurch, dass ich am Tag vor der Entlassung drei Liter Wasser in mich reingekippt habe, um die erforderliche Gewichtsgrenze zu erreichen. Der von außen sichtbare Fortschritt war nur oberflächlich. Und auch das unterschwellige Beschuldigen meiner Eltern war alles andere als zielführend. 

Wie kam es schließlich zur Besserung?

Bambas: Durch einen komplett anderen Therapieansatz, das so genannte „Family Based Treatment“, kurz: FBT. Der Ansatz kommt aus England und wurde damals auch in Amerika viel angewandt. Ich war einer der Ersten in Deutschland, bei dem die Methode eingesetzt wurde, musste jedes Mal extra von Hamburg nach Frankfurt dafür. Ich hatte einen Vielfliegerstatus, so oft war ich da. Meine Familie wurde wieder viel enger eingebunden – was in der Konsequenz aber auch zu einigen Diskussionen und Kämpfen geführt hat. 

Wenn die Eltern vorschrieben, was Sie essen sollten, meinen Sie?

Bambas: Genau. Die Krankheit nimmt einen großen Teil der Persönlichkeit ein und kämpft immer gegen das Gesundwerden. Aber am Ende hat sich der Kampf gelohnt. Mein Zustand hat sich stabilisiert. Zumindest für einige Jahre. Ich konnte wieder meiner Leidenschaft nachgehen: dem Sport. Jetzt vor allem dem Laufen. Mit 17 habe ich Abitur gemacht. Und ich fing an zu studieren. Erst bin ich bei International Management gelandet, eine sehr renommierte Uni, aber nach einem Semester wechselte ich zu Medizin. Das Auswendiglernen wirtschaftlicher Theorien erschien mir realitätsfern.

Wie kam es dann zu dem Rückfall mit der Essstörung?

Bambas: Ich konnte mich nach dem Studienwechsel nicht mit dem Gedanken anfreunden, tatsächlich ein Studium „abgebrochen“ zu haben. Das stand in starkem Kontrast zu dem Anspruch, den ich an mich selbst stellte. Zudem fühlte ich mich im Medizinstudium nicht richtig wohl. Weniger ambitionierte Leute als an der vorherigen Uni, andere Vorstellungen vom Leben. Das Umfeld passte nicht zu mir. Ich begann viel nachzudenken, zu grübeln.

Die gleiche Situation, die Sie bereits als Kind durchgemacht haben?

Bambas: Nein, nicht direkt. Ich war kein Kind mehr. Aber andererseits: Auch noch nicht wirklich erwachsen. Sie müssen sich das so vorstellen: Durch die Essstörung hat sich meine Entwicklung verzögert. Die nachgeholte Pubertät fiel dann in die Zeit des Studienbeginns. Das hat die Sache nicht eben leichter gemacht. Diesmal flüchtete ich mich in verschiedene Ernährungstheorien. Ich dachte, ich würde alle möglichen Lebensmittel nicht vertragen, redete mir diverse Unverträglichkeiten ein. Irgendwann war nicht mehr viel übrig, was ich noch essen konnte. 

Wie ging es weiter? 

Bambas: In aller Kürze: Ich lag mehrere Monate auf der Intensivstation, hatte einen Zentralvenenkatheter am Hals, über den ich ernährt wurde. Ich war mehrfach kurz vorm multiplen Organversagen. In diesem Zustand ist man körperlich näher am Tod als am Leben. Weder die Ärzte noch meine Eltern haben zwischenzeitlich noch daran geglaubt, dass ich das überlebe. Als meine Eltern mich schließlich mit nach Hause genommen haben, mussten sie unterschreiben, dass sie dies auf eigene Gefahr tun. Die Gefahr, dass ich über Nacht versterben würde, war groß.

Was brachte schließlich die Wende?

Bambas: Ich kam in eine spezialisierte Klinik für Essstörungen – wohl so ziemlich die Einzige, die solche Leute wie mich damals überhaupt aufnahm.

Solche Leute?

Bambas: Wie gesagt, ich wog 28 Kilo. Hätte jederzeit sterben können. Diese Verantwortung muss man als Arzt, als Klinik, erst mal bereit sein zu tragen.

Haben Sie sich dort dann gut aufgehoben gefühlt?

Bambas: Ehrliche Antwort: Nein. Es herrschte ein wahnsinniger Gruppendruck. Wir saßen im Stuhlkreis, man wurde vorgeführt: Wer hatte wieder zu wenig zugenommen und warum? Es ist paradox: Auf der einen Seite hat mir diese Klinik wohl das Leben gerettet, eben, weil ich da so schnell wie möglich wieder weg wollte. Auf der anderen Seite würde diese Einrichtung wohl durch keine Ethikkommission durchgehen. Ich will da raus, das wurde zum alles bestimmenden Gedanken. Also begann ich zu essen. 

Haben Sie schnell zugenommen?

Bambas: In der Klinik war es erstmal zäh. Am Ende wurde ich – auf mein Drängen – entlassen. Nach vier Monaten, mit 42 Kilo. Es folgten einige Aufs und Abs und schließlich ging es dann doch recht schnell, bis ich bei 73 Kilo war. So ist mein Gewicht bis heute geblieben. Kaum Fett, verhältnismäßig viel Muskelmasse. Und das Wichtigste: Ich bin mit meinem Körper zu 100 Prozent zufrieden. Es ist einfach geil, so viel mehr Power zu haben und daneben auch: gut auszusehen. Ich wollte das alles nie mehr missen. Schon allein deswegen halte ich einen Rückfall für ausgeschlossen. Aber: Körperliche Fitness allein ist natürlich kein Garant für Stabilität.

Sondern? 

Bambas: Das mentale Profil gehört genauso in den Blick. Wie gesagt, ich bin ein Ganz-oder-Gar nicht-Typ, werde das wohl immer bleiben. Damit gilt es umzugehen. Und zwar Tag für Tag immer wieder neu. Denn es gibt nicht die eine feststehende Lösung für psychische Gesundheit, das Ganze ist ein dynamischer Prozess. Der vor allem eine Sache voraussetzt: Ehrlichkeit mit sich selbst.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Ironman zu laufen?

Bambas: Als ich wieder einigermaßen fit war und das mit dem Nachdenken auch wieder geklappt hat…

…Sie meinen, dass Sie nicht mehr so gegrübelt haben?

Bambas: Tatsächlich funktioniert ab einem gewissen Punkt der Unterversorgung auch das Gehirn nicht mehr richtig, eher das meine ich. Als ich wieder klar denken konnte, hat mich vor allem die Identitätsfrage beschäftigt: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Was würde ich gerne erreichen im Leben, wenn den Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt wären? 

Und?

Bambas: Eins war klar: Ich wollte mein Leben definitiv nicht im ewigen Kreislauf von ambulanter und stationärer Therapie verbringen und alles an mir vorbeiziehen sehen. Ich wollte lernen, Wissen weitergeben, Beziehungen pflegen, etwas bewegen und hinterlassen. Und ich wollte meine mentalen und körperlichen Grenzen ausreizen. Aber dieses Mal im positiven Sinne. 

Johannes Claudio Bambas belegte den 77. Platz beim Ironman Hamburg 2023.
Johannes Claudio Bambas belegte den 77. Platz beim Ironman Hamburg 2023. privat

Das ist alles nachvollziehbar. Aber wie es sein kann, dass ein eben noch todkranker Mensch sich für eine WM qualifiziert, das müssen Sie uns bitte erklären.

Bambas: Ich habe gebrannt, das war pure Leidenschaft. Aber Sie haben Recht, das kommt natürlich nicht einfach so. Der Knackpunkt war wohl ein Stück weit Logik. Wenn mein Traum wahr werden sollte, brauchte ich Energie. Viel Energie. Ich musste mir angewöhnen, nachzufüllen. Meinen Rennwagen zu betanken. Und zwar nicht mit Wasser, sondern mit Super Plus. Der Ferrari kann nur dann die entsprechende Leistung bringen, wenn der Tank voll ist. 

Wie kann man sich das Tanken, also die Ernährung, im Rahmen des Trainingsprogramms vorstellen?

Bambas: In bestimmten Phasen habe ich um die 10.000 Kalorien pro Tag gegessen. Sehr viele Kohlenhydrate: Reis, Kartoffeln, Nudeln. Kiloweise Datteln und andere Trockenfrüchte. Nüsse, Energieriegel. Im Trainingslager auf Fuerteventura bin ich immer derjenige, der als Erster zum Buffet geht und als Letzter wieder weg ist. Einer der Kellner meinte mal zu mir: „Ich habe noch nie einen Mann so viel Essen gesehen.“

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus Ihrer Vergangenheit?

Bambas: Dass Leistung und Erfolg nur dann nachhaltig sind, wenn sie auf Gesundheit ruhen. Gesundheit ist kein nettes Extra. Sie ist die absolute Basis für ein gutes, glückliches Leben. Ich würde mir wünschen, andere würden früher Hilfe annehmen. Präventiv handeln. Man muss nicht alles alleine schaffen. Psychische Erkrankungen sind häufig. Auch bei Männern. Essstörungen, Burnout-Tendenzen, chronischer Stress - das sind keine Charakterschwächen. Je mehr wir darüber sprechen, desto besser. Es sollte bei niemandem so weit kommen, wie bei mir damals. Denn eins ist sicher: Mein Weg zurück ins Leben war brutaler als jeder Ironman.