Seit Jahren mehren sich herbe Korruptionsvorwürfe gegen Viktor Orbán und seine Vertrauten. Immer mehr Kritiker fordern strengere Strafen.
Immer wieder beklagen EU-Parlamentarier eine enorme Korruption und Vetternwirtschaft in Ungarn. Seit Viktor Orbán 2010 zum zweiten Mal als Ministerpräsident an die Macht gekommen ist, profitieren seine Gefolgsleute auch von EU-Geldern, wie Beobachter meinen.
„Wo der Rechtsstaat, unabhängige Medien und zivilgesellschaftliche Gruppen geschwächt werden, dort blüht die Korruption“, sagte Alexandra Herzog von Transparency International Deutschland. Das veranschauliche Ungarn, das unter Orbáns Führung im Index abgestürzt sei und inzwischen mit 42 Punkten (auf einer Skala von 0 bis 100 Punkten) und Rang 76 den letzten Platz unter den EU-Staaten belegt.
Korruption in Ungarn: Wie Orbáns Regierung EU-Gelder veruntreut
Ein aktuelles Beispiel ist ein Landhaus, das zuletzt mit fünf Millionen Euro aus dem EU-Strukturförderungsprogramm renoviert wurde. Angeblich, um den lokalen Tourismus zu fördern. Aber: „Nach der Renovierung hat der Staat das Gebäude kostenlos an den führenden ungarischen Mineralölkonzern MOL verscherbelt“, wie Daniel Freund der Frankfurter Rundschau von Ippen.Media sagte. Der EU-Abgeordnete gilt als einer der schärfsten Orbán-Kritiker.
Wie viele EU-Gelder Orbán insgesamt zweckentfremdet hat, ist unklar. Feststeht: Seit der Rechtspopulist an der Macht ist, sind 80 Milliarden Euro aus der Europäischen Union nach Ungarn geflossen. Transparency International schätzt, dass davon 25 Prozent für nicht-vorgesehene Zwecke entfremdet wurden.
Der Regierungschef selbst besitzt offiziell kaum etwas. Laut seiner jährlichen Vermögenserklärung verfügt Orbán weder über große Ersparnisse noch über besonders wertvolle Immobilien. Nach Angaben des ungarischen Investigativportals Átlátszó sind seine Verwandten und Freunde dagegen extrem reich. Auch dem Ministerpräsidenten nahestehende Geschäftsleute besitzen enorme Vermögenswerte. Wohl auch, weil ihre Unternehmen immer wieder öffentliche Aufträge erhalten.
Orbáns Schulfreund nun reichster Mann in Ungarn
Beispielsweise schätzt Forbes das Vermögen von Orbáns Schulfreund Lőrinc Mászáros auf drei Milliarden Euro. Vor Orbáns Regierungsübernahme arbeitete der als Heizungsinstallateur. Nun ist er der reichste Mann in Ungarn. Ein weiteres Beispiel ist Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz, der im vergangenen Jahr laut der Financial Times sein Vermögen auf 500 Millionen Euro verdoppelt hat. Auch die Firma von Orbáns Vater Orbán Győző floriert seit Jahren. Dort werden Baumaterialien für öffentlichen Bauprojekte in Ungarn gekauft werden.
Orbán sichert sich nach Freunds Einschätzung mit den EU-Mitteln auch politische Macht. So würden öffentliche Projekte an politische Bedingungen geknüpft. „Ungarns Regierung verspricht beispielsweise einem lokalen Bürgermeister Investitionen für seine Schule. Im Gegenzug soll er dafür sorgen, dass sein Dorf brav die Fidesz-Partei wählt“, sagte der Grünen-Politiker.
Korruption in Ungarn: Orbán-Kritiker Freund fordert Einfrieren aller EU-Gelder
Zudem sichert sich Orbán durch die Privatisierung öffentlicher Gebäude – wie beim zuvor erwähnten Landhaus – ab: Falls er eine Wahl und damit seinen Posten als Ministerpräsident verlieren würde, würden Orbán und seine Vertrauten die zuvor erbeuteten Immobilien nicht mehr an den Staat verlieren können, weil sie sich mittlerweile in ihrem Privatbesitz befinden. Ähnlich nehmen Orbáns Vertraute nach Angaben von Freund auch Universitäten und Autobahnen durch Privatisierungen in ihren Besitz.
„Solange Orbáns Regierung Geld klaut und öffentliche Aufträge unfair vergibt, sollte die EU kein Geld mehr in dieses System geben. Die EU-Gelder sollten so lange eingefroren werden, bis das Geld in Ungarn die Menschen erreicht, die es erreichen soll“, sagte Freund unserer Redaktion. Das Mitglied des EU-Haushaltskontrollausschusses hatte vor wenigen Monaten Strafanzeige gegen Orbán erstattet – nach einem digitalen Spähangriff auf sein Büro während des Europawahlkampfes 2024. Ob der ungarische Rechtspopulist tatsächlich direkt oder indirekt hinter der Attacke steckt, ist nicht bewiesen.
EU-Mitglied Ungarn: Parlamentarier nennt fehlende Kontrolle eine „Abscheulichkeit“
Auch der Abgeordnete Moritz Körner forderte Ende November während einer Aussprache im EU-Parlament, die Staats- und Regierungschefs der EU sollten „endlich handeln“, um die Korruption in Ungarn zu bekämpfen. Orbáns Freunde würden in Palästen leben, während die Bevölkerung sich zur ärmsten in der Europäischen Union entwickle.
„Ich finde das eine Abscheulichkeit, dass die Regeln der Europäischen Union, auch der Einsatz der Gelder der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in ganz Europa nicht kontrolliert wird, sondern diese Korruption und dieses Beugen der Rechtsstaatlichkeit verteidigt werden“, sagte der FDP-Politiker. Deswegen müsse der Rat endlich agieren: „Wir müssen die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union entschieden verteidigen“, fügte Körner hinzu.
Zuletzt hatten sich immer mehr Parlamentarier für die Aussetzung des ungarischen Stimmrechts ausgesprochen. „Ungarn ist de facto keine funktionierende Demokratie mehr und mit Artikel 7 könnten wir den Stimmrechtsentzug begründen“, sagte Terry Reintke, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, der Frankfurter Rundschau. Mit einem sogenannten Artikel-7-Verfahren könnte die EU Ungarns Stimmrecht aussetzen. Dafür müssten alle restlichen 26 Mitglieder im Rat dem Schritt zustimmen.
EU-Rat könnte Ungarns Stimmrecht aussetzen
Möglich ist das, wenn ein Land EU-Werte schwerwiegend und anhaltend verletzt. Das EU-Parlament hatte bereits 2018 ein Verfahren eingeleitet, das allerdings vom Rat blockiert wird.
Sicherheitspolitiker wie Tobias Cremer (SPD) wollen Ungarn das Stimmrecht vor allem entziehen, weil das Land in ihren Augen die Sicherheit der gesamten EU riskiere. Es könne nicht sein, dass sich „Orbán im Europäischen Rat zum Teil schon fast als Sprachrohr Moskaus aufführt und unserer aller Sicherheit immer wieder mit seinen Vetos gefährdet“, sagte das Mitglied des EU-Sicherheitsausschusses unserer Redaktion.
Allerdings gilt ein ungarischer Stimmrechtsentzug als unwahrscheinlich. Niemand in der EU will sich die Blöße geben, sollte eine offizielle Abstimmung scheitern, heißt es immer wieder in EU-Kreisen.
Aufgrund dieser Schwierigkeiten spricht sich Freund für ein anderes Instrument aus: „Orbán versteht die Sprache des Geldes. Deshalb sollte die EU alle Gelder, die für Ungarn bestimmt sind, zurückhalten“, sagte der Grünen-Politiker der Frankfurter Rundschau. Seinen Angaben zufolge sind zurzeit 18 Milliarden Euro eingefroren – unter anderem, weil die ungarische Regierung LGBTQ-Rechte nicht respektiere, das Asylrecht missachte und weil Orbán die staatliche Korruptionsbekämpfung in seinem Land größtenteils zerstört habe. (Quellen: Financial Times, Forbes, Átlátszó, MDR, Transparency International, eigene Recherche)