Nach Wahlsiegen will Präsident Milei noch radikaler sparen. Doch ziviler Ungehorsam und Widerstand haben Tradition in Argentinien. Ein Besuch vor Ort.
Corrientes – „Was für ein Moment! Trotz allem ist uns das Treffen gelungen!“ – an diesem Schlachtruf kommt an diesem Wochenende niemand vor bei in der argentinischen Provinzhauptstadt Corrientes. Mehr als 70.000 Teilnehmer*innen sind aus dem ganzen Land angereist. Trotz Wirtschaftskrise, trotz tagelanger Anreise, trotz Hitze, trotz bürokratischer Hürden und gerade wegen der Politik des radikalliberalen Präsidenten Javier Milei.
Seit 38 Jahren organisieren sich Argentiniens Frauen, Lesben, Transvestiten, Transpersonen, Bisexuellen, Intersexuellen und nicht-binären Personen bei jährlichen „Encuentro plurinacional“ (deutsch: plurinationales Treffen) in einer einzigartig basisdemokratischen Form. Das Besondere: Alte und Junge, Reiche und Arme, Städter*innen und Bäuer*innen, Indigene und Migrant*innen kommen hier zusammen. Es ist eine Veranstaltung, die Grenzen von Geburtsjahr, Geografie, Hautfarbe und sozialer Klasse sprengt. Ihre Anliegen und Alltagsprobleme unterscheiden sich, doch in einem Punkt sind sich alle einig: Milei muss gestoppt werden. „Fuera Milei!“ (deutsch: Raus Milei!) ist deshalb ein weiterer Slogan, der an diesem Wochenende aus vielen Kehlen schallt.
„Unsere Völker sind auch heute Opfer“ – Arbeitsrechtlerin über Neokolonialismus in Argentinien
Der zivile Widerstand gegen Kolonialismus, Imperialismus und Staatsgewalt hat in Argentinien Tradition. Bis 2019 hieß die Veranstaltung „Nationales Frauentreffen“. Willkommen sind heute im Prinzip alle, die keine heteronormativen Cismänner sind. Alle, die unter den aktuellen Machtverhältnissen leiden. Neben Demonstrationen und Kulturveranstaltungen sind rund 160 Workshops Kern des „Encuentros“. Die Themen reichen von Arbeitsrecht, Bildungszugang und spezifisch weiblichen Gesundheitsthemen über Identitätsfragen bis hin zu Entrechtung der Indigenen und Ausverkauf des Landes an US-Konzerne.
„Unsere Völker waren Opfer, unsere Völker sind auch heute Opfer“, sagt Nina Brugo, Arbeitsrechtlerin und „Encuentrera“ der ersten Stunde in einem der Workshops beim Treffen in der zentralargentinischen Provinz Corrientes (21. bis 24. November). Sie erzählt vom ersten Treffen 1986 im Zentrum von Buenos Aires, kurz nach Ende der argentinischen Militärdiktatur. „Niemand hat damals 1000 Frauen erwartet“, erinnert sich die 82-Jährige. Heute hat das Treffen Kultstatus und fand bis auf zwei Pandemiejahre jedes Jahr statt. Gesetze zur legalen Abtreibung in Argentinien oder die lateinamerikaweite „Ni uns Menos“-Bewegung gegen Femizide haben hier ihre Wurzeln.
Zehntausende Frauen reisen trotz Wirtschaftskrise und Hürden durch Argentinien
Zehntausende nehmen jedes Jahr die beschwerliche Reise auf sich. Sie reisen tausende Kilometer in Bussen durch das achtgrößte Land der Welt, schlafen im jeweiligen Austragungsort in Schulen auf dem Boden, waschen sich mit Kübeln und kochen in improvisierten Gemeinschaftsküchen. Organisiert werden die Reisen von Gewerkschaften, Sozialverbänden oder privat. Das Wichtige ist, dass alle irgendwie ankommen und spätestens zur Auftaktveranstaltung am Samstag da sind. Bis zum Schlussakt, jeweils Montagmittag, werden sie Schwestern aus dem ganzen Land kennenlernen, sich zu ihren jeweiligen Herzensthemen austauschen und vor allem bemerken: ihr individuellen Probleme sind kein Einzelfall.
Und wenn die Welt überlebt, werden Geschichtslehrer das 20. Jahrhundert anhand seiner Symbole erklären: Sie werden ihren Schülern zeigen: die Coca-Cola-Flasche, den Fußball, das Fernsehen, den Computer, die Neutronenbombe. Und um Würde zu erklären, werden sie das weiße Kopftuch zeigen, das bei den Demonstrationen auf der Plaza de Mayo getragen wurde.
Frauen aus den geografisch und sozial abgelegensten Orten kommen zu dem Treffen und lernen, sich gegen gewaltvolle Machos, ausbeuterische Chefs und gierige Großkonzerne zu wehren. Ältere Teilnehmerinnen beschreiben immer wieder, wie die regelmäßige Teilnahme an der Veranstaltung über die Jahrzehnte ihr Bewusstsein zu Familie, Sexualität und Ausbeutung verändert habe. Anwältinnen aus Buenos Aires treffen auf vertriebene Indigene, Ärztinnen auf Vergewaltigungsopfer, Studentinnen auf Bäuerinnen. Die Verbindungen, die seit Jahrzehnten bei diesem Treffen geschlossen werden, sind wie ein Spinnennetz, das ganz Argentinien überspannt.
„Müssen diesen Typen und seine Mannschaft stoppen“ – Argentiniens Frauen gegen Milei
Aktuellen Situation trifft Präsident Mileis Kettensägen-Sparpolitik vor allem schwache Gruppen, da scheint die Vernetzung besonders wichtig. Milei hat Feminismus und Sozialismus zu offiziellen Feinden erklärt, verkauft indigene Böden an US-Konzerne und streicht Sozialhilfen für die Ärmsten. „Unser gemeinsamer Feind sitzt in Buenos Aires“, sagt Brugo und appelliert an die Einheit des „Encuentros“. Als Weggefährtin der Sozialaktivisten Nora Cortiñas, die auf der Suche nach ihrem verschleppten Sohn in die Geschichtsbücher einging, erinnert die Arbeitsrechtlerin an die lange Tradition des Widerstandes in Argentinien.
Polizeirepression, imperiale Wirtschaftsmacht, Männerbanden – die aktuelle Situation erinnere sie an dunkle Zeiten. Der Encuentro sei ein Zentrum des zivilen Ungehorsams und werde den inhumanen Reformen Mileis aus nach den gewonnenen Parlamentswahlen Ende Oktober entgegentreten. „Wir müssen diesen Typen und seine Mannschaft stoppen“, sagt sie, auch in Richtung der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die sie persönlich kennt. Solange sie laufen kann, werde sie zum „Encuentro“ kommen, sagt sie. Kommendes Jahr wird ihre Reise nach Córdoba führen, wie jedes Jahr wurde der Austragungsort des Folgejahres beim Schlussakt per Applaus abgestimmt. (lm)