Natürlich versteht man Trainer Frank Schmidt sofort. Der Strafstoß, der seine Heidenheimer gegen den Hamburger SV aus dem DFB-Pokal warf, war keiner. HSV-Profi Fabio Vieira ging wie ein Leichtgewicht im Boxring zu Boden, als ihn Gegenspieler Julian Niehues im Strafraum minimal berührte.
Kein Videobeweis durfte bei der Aufklärung helfen - es gab keinen in dieser zweiten Pokalrunde. Schmidt drehte durch, fand nie mehr zum Ruhepuls zurück und flog später sogar mit Gelb-Rot vom Platz. Und das alles wegen des Elfmeters.
Frankfurt, Köln, Heidenheim: Im DFB-Pokal wurden wir Zeuge, wie unser Fußball mal war
Ich muss zugeben: Ich habe die Situation genossen. Nicht weil Schmidt, dieser sympathische Erfolgstrainer des 1. FC Heidenheim, so qualvoll litt. Sondern weil wir bei der Live-Übertragung aus der Fußballprovinz Zeuge wurden, wie unser Fußball mal war: emotional, ursprünglich und manchmal ungerecht.
Da hatte diese Pokalrunde einige Beispiele zu bieten:
In Frankfurt kam Borussia Dortmund auch deshalb weiter, weil vor dem BVB-Ausgleichstor eine knappe Abseitsposition von Maximilian Beier nicht geahndet wurde. Der eigentliche Treffer durch Julian Brandt fiel erst 16 Sekunden und sieben Pässe später. Das kann man ungerecht finden, wobei es die Frankfurter wohltuend unaufgeregt hinnahmen. Gut so!
In Köln lag der FC Bayern zunächst in Rückstand, dann hatte er Glück. Josip Stanisic schoss, Ron-Robert Zieler parierte, Luis Diaz staubte ab - stand bei Stanisics Versuch aber im Abseits. Und das deutlich. Auch hier: kein VAR, keine Korrektur. Einfach Bayern-Dusel.
"Wenn du immer mit Navi unterwegs bist, weißt du irgendwann die Straßen nicht mehr", sagte Kölns Trainer Lukas Kwasniok zum fehlenden VAR. Fairer Zusatz: "Aber das ist gar kein Vorwurf. Früher oder später hätten uns die Bayern erdrückt."
In Heidenheim werden sie noch Wochen davon erzählen, wie beschissen sie sich gefühlt haben. Man kann Schmidt nur versichern: Schiedsrichter Benjamin Brand hat nicht absichtlich falsch gepfiffen. Für ihn war die Situation offensichtlich: Foulspiel und Strafraum gleich Elfmeter - Ende der Diskussion.
Die erhitzten Gemüter brachten ihn von seinem Urteil nicht ab. Warum auch? Er hat das entschieden, was er in diesem Augenblick wahrgenommen hatte. So war der Fußball früher: unmittelbar, leidenschaftlich und in den Händen des Schiedsrichters.
Keine Emotion für ein bisschen mehr Gerechtigkeit - das ist der moderne Fußball
Seit zehn Jahren gibt's das in der Bundesliga nicht mehr. Es regiert der Video-Assistant Referee (VAR). Und was das bedeutet, erlebte ich am Dienstagabend keine Stunde nach der Heidenheim-HSV-Story beim deutschen Frauen-Länderspiel im ZDF.
Gegen Frankreich gab's ebenfalls zwei umstrittene Szenen. Die eine ging mir besonders auf den Keks: Die Schiedsrichterin hatte längst auf Tor für Deutschland entschieden, als sich der VAR aus dem Nirgendwo einschaltete, weil der Videobeweis in der Nations League Pflicht ist.
Eine gefühlte Ewigkeit standen die Spielerinnen wie bestellt und nicht abgeholt auf dem Rasen und warteten, dazu das Schiedsrichtergespann, Trainer, Publikum, Ersatzleute und nicht zu vergessen: die Fernsehzuschauer.
Und nur weil eine Superlupe in Bruchteilen eines Millimeters Abseits erkannt haben wollte, wurde der kompletten Dynamik, die in diesem Spiel steckte, der Stecker gezogen. Das ist der moderne Fußball: Für ein bisschen mehr Gerechtigkeit geht die Emotion flöten.
Die beiden größten Tor-Legenden hätte es mit VAR nie gegeben
Hier ist der Schiedsrichter ein Knecht der Technik: Am Ende sagen Fernsehbilder, was richtig und was falsch ist. Das wunderschöne Tor von Nicole Anyomi: aberkannt und schon in Sekundenschnelle aus allen Statistiken gestrichen. Wollen wir das wirklich?
Die zwei Tore, die den Weltfußball seit einem halben Jahrhundert aufregen, wären bei einem Videobeweis niemals anerkannt worden: Englands drittes Wembley-Tor gegen Deutschland im WM-Finale 1966 und Diego Maradonas Handtor gegen England bei der WM 1986, das Jahrhunderttor.
Nicht auszudenken, was dem Fußball dadurch verloren gegangen wäre. Die herzzerreißenden Diskussionen, die Zitate von Maradona ("Hand Gottes"), Historisches und Hysterisches. Der Fußball von heute ist dagegen wie NFL: ein Fall für Bildschirm-Akrobaten.
Mitleid mit Frank Schmidt müssen wir übrigens nicht haben. Er selbst profitierte damals im Aufstiegskampf der 2. Liga, als der VAR bei einer umstrittenen Elfmeterszene zu seinen Gunsten geschlafen hat und er mit Heidenheim im Fernduell mit dem HSV aufstieg. Daran erinnerten ihn die Hamburger jetzt, als er sich so mächtig aufregte.
Es gibt da einen schönen Satz, der keiner empirischen Überprüfung standhalten würde: "Beim Fußball gleicht sich alles aus." Wäre das nicht herrlich! Leider stört nur der VAR dabei.