Zwei schmale, schwarze Regalbretter hängen über einer Holztreppe in einem Haus in Münster. Matthias Bäcker lehnt mit verschränkten Armen davor. Er zeigt mit dem Finger auf eine Reihe eingerahmter Fotos, die auf den Brettern stehen.
Ein Teenager, schwarz gekleidet, vielleicht 14 Jahre alt, sitzt auf einem Fahrrad. Er hat sich eine Gitarre über den Rücken geschnallt. Ein anderes Bild zeigt Bäcker mit kurzen Haaren, deutlich jünger als heute. Er liegt mit zwei Jungs im Gras. Vermutlich ist Sommer, alle tragen T-Shirts.
„Auf das Regal kommt man erst, wenn man gestorben ist“, sagt der Vater. Eines der Kinder habe das bei einem Besuch festgestellt.
Bäcker, 55, graumeliertes, wuscheliges Haar, stoppeliger Bart, freundliche, hellblaue Augen, läuft fast jeden Tag an den eingerahmten, lange vergangenen Momenten vorbei. Die zwei Jungs auf den Fotos, das sind seine Söhne Sebastian und Max. Sebastian starb mit 14, Max mit 17. Beide nahmen sich das Leben - der eine 2010, der andere 2022.
Hilfe bei Suizid-Gedanken
Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über das Thema Suizid zu berichten. Sollten Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111 oder 0800 3344533.
„Da ist immer die Frage nach dem Warum“, sagt Bäcker. „Warum stehen die Fotos meiner beiden Söhne auf dem gleichen Regal wie die Fotos meiner verstorbenen Eltern?“ Er schlingt die Arme um den Körper. Der Kragen seines dunkelgrauen Kapuzenpullis zieht sich zusammen wie eine Schnecke, die in ihr Haus flüchtet.
2024 begingen laut Statistischem Bundesamt 10.372 Menschen in Deutschland Suizid. Betroffen waren mehrheitlich Männer. 216 der Menschen, die sich selbst töteten, waren noch keine 20 Jahre alt – wie Max und Sebastian.
Ortswechsel. Bäcker sitzt im Auto, ein schwarzer, in die Jahre gekommener Ford mit analoger Uhr im Armaturenbrett. Sein Handy klemmt in einer zangenartigen Halterung. „Wir haben in unserem Haus in Münster eine Art Fort Knox eingerichtet“, sagt der 55-Jährige, eine Hand am Lenkrad. Er und seine Frau Sabine kamen vor knapp drei Jahren hierher.
Nach Max‘ Suizid machten sie Freunden, Familie und Bekannten wortlos klar, dass sie in Ruhe gelassen werden wollen - „Fort Knox“ wurde zum Sinnbild für ihre kleine, private Festung.
„Der Tod ist kein beliebtes Gesprächsthema“, meint Bäcker und schaut von der Straße kurz in Richtung Beifahrersitz. Dann korrigiert er sich. Der Blick wandert nach vorn. „Eigentlich ist er für die meisten Menschen gar kein Thema.“
"Ich kann oberflächliche Gespräche nicht ab", sagt Bäcker
Dass das für den Vater anders aussieht, steht fest. Der Tod fährt im Auto mit, er hängt wie ein Schleier über dem, was gesagt wird. In nur wenigen Minuten verwandelt sich freundlicher Smalltalk in ein Gespräch über die großen Fragen des Lebens.
Wie sieht es mit Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht aus? Warum reden wir so selten übers Sterben? Ist ein selbstbestimmter Tod besser als ein fremdbestimmtes Leben?
„Ich kann oberflächliche Gespräche nicht ab“, sagt Bäcker und gleitet mit dem Ford in die Einfahrt. „Dafür ist mir meine Zeit zu schade.“ Das Haus, rund 70 Quadratmeter Wohnfläche, besteht aus Backsteinen, vor der Tür steht ein knallgelber Metalltisch mit zwei passenden gelben Stühlen.
Ursprünglich wollte Bäcker Polizist werden. Also fing er in den 80er Jahren beim Bundesgrenzschutz an, schloss die Ausbildung aber nicht ab. 1989, als Deutschland wiedervereint wurde, begann er eine Lehre zum Werkzeugmacher. 2005 folgte der Meister, im darauffolgenden Jahr machte sich Bäcker im Bereich Feinwerkmechanik mit zwei CNC-Bearbeitungszentren – das sind mehrachsige, computergesteuerte Werkzeugmaschinen -selbstständig.
2010 fand man seinen Sohn Sebastian tot in der Nähe eines Spielplatzes, gegen 16.30 Uhr. Von 14 bis 15 Uhr hatte Bäcker noch mit ihm beim Mittagessen gesessen.
Sebastian wirkte vor dem Suizid ungewohnt entspannt
Der Vater macht sich bis heute Vorwürfe. Ein halbes Jahr vor dem Suizid habe Sebastian ihn gefragt, wie ein Knoten zum Erhängen aussieht. „Beim Gedanken daran wird mir kotzübel“, sagt er. Bäcker war unwohl, als er seinen Sohn so reden hörte. Trotzdem moderierte er das Thema ab, meinte, es wäre jugendlicher Übermut, vielleicht eine schwierige Phase in der Pubertät.
Heute denkt der Vater, er hätte mit seinem Sohn sprechen müssen, ihm genauer zuhören sollen. „Nicht einfach ignorieren. Ich hätte sagen sollen: Sebastian, das gibt mir ein komisches Bauchgefühl. Wollen wir reden?“
Drei Wochen, bevor sich der 14-Jährige das Leben nahm, habe er ungewohnt entspannt gewirkt. Eigentlich war Sebastian eher ein Rebell, sagt der Vater. Reserviert. Schweigsam. Nachdenklich. Über die Schule erzählte er den Eltern wenig. Bäcker weiß heute, wie trügerisch die plötzliche Ausgeglichenheit war. Wahrscheinlich war aus den Überlegungen seines Sohnes, Suizid zu begehen, ein fester Plan geworden, glaubt er.
Es stimmt mit den Dingen überein, die über suizidgefährdete Menschen in Fachbüchern, aber auch im Internet stehen. Natürlich sind da die, die häufig über den Tod sprechen oder sogar offen Sterbewünsche äußern. Viele isolieren sich zunehmend. Doch es gibt auch Menschen, die andere Warnzeichen aussenden: Sie verhalten sich plötzlich organisiert, verschenken ihr Eigentum und bedanken sich bei Angehörigen und Freunden.
Bäcker ist zum zweiten Mal verheiratet
Als Sebastian starb, starb ein Teil des Vaters mit ihm. Bäcker wollte sich kurze Zeit später das Leben nehmen. Seine Welt war aus den Fugen geraten und er hatte die Hoffnung aufgegeben, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Doch der Vater wurde – im Gegensatz zu seinem Sohn - rechtzeitig in der Garage seines damaligen Zuhauses gefunden.
Er kam auf die Intensivstation. Es folgten Scheidung, Wohnungssuche, Hausverkauf, berufliche Neuorientierung. „Schreckliche zwei bis drei Jahre waren das“, sagt er.
Bäcker ist zum zweiten Mal verheiratet. Seine Frau Sabine – blonde, kinnlange Haare, runde Brille mit schwarzem Rand, Lachfalten um die Augen -, mit der er mehr als zehn Jahre zusammen ist, sitzt mit ihm am Küchentisch. Sie hat Frühstück vorbereitet, eine Wurstplatte, Schnittkäse, ein wenig Camembert, Gurken und Paprika. Sabine hat ihrem Mann nach Sebastians Tod zugehört. Immerhin waren die beiden Nachbarn.
Sie sei nicht so spießig wie er, sagt Bäcker. „Ich bestelle im Urlaub eine Pizza Tonno, weil ich weiß, dass mir das schmeckt. Sabine bestellt Nummer 39, ohne eine Ahnung zu haben, was das überhaupt für ein Gericht ist.“
Das half ihm. Das Unkonventionelle, Unaufgeregte, das seine Frau an sich hat. Bäcker wurde entspannter. Sie schafften es, nach Sebastians Suizid wieder Freude zuzulassen. Ein normales Leben zu führen. Es dauerte zwölf Jahre.
Dann kam der 7. August 2022. Bäckers Telefon klingelte, er saß gerade mit Sabine auf dem Balkon und sah Blaulicht in der Nähe. Max ist tot, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Wieder: Suizid. Die Schuldgefühle kehrten mit doppelter Wucht zurück. Es ist eine Sache, wenn sich ein Sohn das Leben nimmt. Aber beide? Bäcker fragt sich, ob er etwas hätte merken müssen, wenigstens beim zweiten Mal. Wie auf so viele andere Fragen bekommt er darauf keine Antwort.
Er weiß nur: Max stellte keine Fragen zu Suizidmethoden. Er hatte gerade seinen Führerschein bestanden, war oft mit dem Vater im Auto unterwegs. Sie redeten viel. Ihre Gespräche blieben meist oberflächlich, erzählt Bäcker, und dass er das „normal“ fand. Max sei gut gelaunt gewesen, voller Lebensfreude. Dachte Bäcker jedenfalls.
Nach Max' Suizid verlor Bäcker seinen Lebensmut wieder
Der Vater steht auf, verlässt den Küchentisch und kehrt mit einem Buch in braunem Ledereinband zurück. Es ist sein „Nepal-Buch“, sagt er, legt es auf den Tisch und blättert durch die Seiten voller Zeichnungen, Fotos und Notizen. Nach dem Suizid des zweiten Sohnes war der Vater wieder kurz davor, aufzugeben. Er entwickelte eine posttraumatische Belastungsstörung. Verlor den mühsam zurückeroberten Lebensmut. Dann reiste er für drei Monate nach Nepal, ans andere Ende der Welt.
Einen Fehler wollte Bäcker auf keinen Fall machen: Reisen, um wegzulaufen. Niemand kann für immer vor seinen Problemen davonrennen. „Ein ganz anderer Matthias kam zurück“, sagt Sabine. Sie schenkt Kaffee nach. „Es war das Reduzierte, das Von-allem-ganz-weit-weg-Sein, das mich zum Nachdenken gebracht hat. Will ich dieses Leben noch und wenn ja: Wie will ich es leben?“, sagt Bäcker.
Wer ihm so zuhört, wie er von seinen Schicksalsschlägen erzählt, wer ihm zusieht, wie er das Nepal-Buch durchblättert, denkt: Bäcker ist ein starker und gleichzeitig zerbrechlicher Mann. Entschlossen, aber von den Tragödien seines Lebens gezeichnet.
Er ist kein Held, aber auch kein Gebrochener. Er ist irgendwo dazwischen. Getrieben vom Willen, die Verluste und die Schuldgefühle, die ihn tagtäglich begleiten, zu nutzen, um anderen zu helfen und das Thema Suizid zu enttabuisieren.
Depressionen sind eine tödliche Krankheit
Als Bäcker aus Nepal zurückkehrte, hatte er einen Plan im Gepäck. Er beschloss, unter dem Dach des Vereins AGUS (Angehörige um Suizid) eine Selbsthilfegruppe in Münster zu gründen. Ziel ist es bis heute, sich mit anderen Suizid-Hinterbliebenen auszutauschen und als Betroffener etwas für Betroffene zu tun. Davon gibt es viele.
Jährlich sterben in Deutschland mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen und Mord zusammen. Die Deutsche Depressionshilfe schreibt, dass Suizide fast immer vor dem Hintergrund „einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression“, passieren.
Depressionen sind eine tödliche Krankheit. Betroffene beschreiben sie als Schleier, der sich über ihr Gemüt legt. Die Welt wird stumpf, dunkel und leer. Viele Suizidgefährdete wollen nicht sterben. Sie wissen nur nicht, wie sie weiterleben sollen. Dabei kann Depressiven oft geholfen werden, zum Beispiel mit Medikamenten oder der richtigen Therapie.
Bäcker stellte im Laufe des ersten Selbsthilfegruppen-Jahres fest, dass es viele „Varianten“ von Suizid gibt. Einmal rief ihn jemand an, der fragte, ob er zur Gruppe stoßen dürfte. Die Person hatte einen Angehörigen durch assistierten Suizid verloren. Bäcker brachte das Telefonat zum Nachdenken. Inzwischen ist Sterbehilfe ein Thema, das ihn umtreibt. Sabine und er reden viel davon. Vor allem vom Umgang damit. Bäcker wirbt für mehr Transparenz und offene Kommunikation, fürs Zuhören und Miteinanderreden.
Den Vater beschäftigen viele Fragen, eine ganz besonders
Der Vater weiß, dass Sterbehilfe ein umstrittenes Thema ist. Es gibt viele kritische Fragen, zum Beispiel: Wer oder was entscheidet, ob ein Leben lebenswert ist? Wie exakt lässt sich der Sterbewille einer depressiven Person einschätzen? Und haben Tabus nicht auch einen Sinn? Den Schutz vor Normalisierung, vor zu einfachen, schnellen Lösungen?
Er ist offen für Debatten. Das habe auch etwas mit Respekt zu tun, sagt Bäcker als jemand, der ganz genau weiß, wie es ist, geliebte Menschen plötzlich zu verlieren.
Grundsätzlich gibt es viele Fragen, die den Vater beschäftigen, tagsüber und auch nachts. Die größte und schmerzhafteste ist die nach dem Warum. Für seine Söhne hätte es Alternativen zum Suizid gegeben, das weiß er. Für immer ungeklärt bleibt, warum sie keinen anderen Ausweg sehen konnten.
Heute macht der 55-Jährige eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter im Gesundheitssystem. Noch so ein Plan, den er verfolgt. In dieser Rolle hilft Bäcker als jemand, der eine schwere Lebenskrise bewältigt hat, Menschen, die in ähnlichen Situationen stecken.
Er ist zum Experten für sein Schicksal geworden. Und das will er nach außen tragen, in die Öffentlichkeit. Vor allem will Bäcker für andere Suizid-Hinterbliebene der Ansprechpartner – „der Erfahrungsexperte“ – sein, den er sich in seiner schwersten Zeit gewünscht hätte. Er will informieren und aufklären.
Der Tod hat Platz in Bäckers Haus - genauso wie das Leben
Zwei Wochen, bevor sein zweiter Sohn sich das Leben nahm, kam Max beim Vater vorbei. Eigentlich nur, um eine Unterschrift für einen Schottland-Trip mit der Schule abzuholen. Bäcker fragt sich bis heute, ob mehr dahintersteckte.
„Vielleicht wollte er reden“, sagt er. „Ich werde es nicht mehr erfahren. Ich habe nicht energisch genug nachgefragt.“ Da sind sie wieder, die Schuldgefühle, die wahrscheinlich nie aufhören werden.
Bäcker schaut zur Holztreppe. Über dem Bilderregal, aus dem seine verstorbenen Söhne alterslos ins Backsteinhaus schauen, hängt ein weiteres Brett. Darauf stehen Fotos von Sabines Enkelkindern und eines Pflegekindes, das Bäcker und seine Frau zur Corona-Zeit aufgenommen hatten.
Wenn die beiden vor der Regalwand stehen, lächeln sie. Der Tod hat Platz in diesem Haus. Genau wie das Leben. Beides kann gleichzeitig da sein. Und das muss es auch, wenn man Bäcker fragt.