„Wir müssen uns von einer unsolidarischen Vollkasko-Mentalität verabschieden. Gesundheit ist keine All-inclusive-Dienstleistung des Staates. Wer mit einer Erkältung die Notaufnahme blockiert, darf nicht erwarten, sofort die gesamte Palette an Hightech-Diagnostik zu beanspruchen“, sagte der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Hendrik Streeck zuletzt. Arbeitgeber-Verbandschef Steffen Kampeter sprach in diesem Zusammenhang in einem Interview im August von „Ärzte-Hopping“.
Beide haben dieselbe Idee zur Lösung: Eine Kontaktgebühr soll her. Wann immer Sie in Zukunft zum Arzt gehen, sollen Sie dafür einen Preis bezahlen. Wie hoch dieser wäre, hat bisher noch keiner vorgeschlagen. Automatisch kommen aber Erinnerungen an die Praxisgebühr hoch, die zwischen 2004 und 2012 erhoben wurde. Damals mussten Patienten einmal im Quartal 10 Euro bezahlen. Der Gesundheitsökonom Christian Hagist hatte zuletzt eine Gebühr von 15 Euro für die Neueinführung vorgeschlagen. Für 9,7 Arztbesuche würden dann also 145,50 Euro pro Jahr fällig.
Die Idee hinter der Kontaktgebühr ist dieselbe wie hinter der Praxisgebühr – sie soll Menschen davon abhalten, zum Arzt zu gehen. Deutsche gingen „zu viel, oft unnötig“ zum Arzt, sagt Streeck, „und es belastet das System enorm“. Doch, stimmen diese Behauptungen?
Deutsche gehen häufiger zum Arzt als in anderen Nationen
Im Jahr 2023 ging jeder von uns im Schnitt 9,7-mal zum Arzt. Das ist laut einer Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein überdurchschnittlicher Wert. In Belgien sind es zum Beispiel nur 7,9 Besuche, in Frankreich 5,4, in Finnland 4,1 und in Norwegen 3,9. Vor uns liegen nur noch Südkorea (18), die Türkei (11,4) und die Niederlande (10,1). Der OECD-Durchschnitt liegt bei sechs Arztbesuchen pro Jahr, Deutschland liegt also rund 60 Prozent darüber.
Damit sind wir ein Opfer unseres eigenen Erfolges. Schließlich gehen Menschen nur dann häufig zum Arzt, wenn diese erstens ausreichend verfügbar sind und zweitens bezahlbar sind. Beides ist in Deutschland gegeben. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern besitzen wir durch die gesetzlichen Krankenkassen eine nahezu vollständige Abdeckung. Kaum ein Mensch in Deutschland ist nicht krankenversichert. Und die Arztdichte ist hoch: Auf 100.000 Einwohner kommen im Schnitt 47 Ärzte. Das wird innerhalb der OECD nur von Österreich (55), Italien (54) und Norwegen (50) übertroffen.
Das führt eben zu zwei Phänomenen: Erstens nutzen Menschen den einfachen Zugang aus und gehen auch schon mit kleineren Wehwehchen – oft auch nur Befindlichkeitsstörungen genannt – zum Arzt. Andererseits sichert dieses System auch eine hohe Qualität. Weniger als ein halbes Prozent der deutschen Patienten gab in einer jährlichen OECD-Umfrage 2022 an, dass ihre medizinischen Bedürfnisse vom Gesundheitssystem nicht gedeckt worden seien. Das ist der viertniedrigste Wert in der OECD und wird nur noch leicht von Malta, Tschechien, den Niederlanden und Zypern unterboten. Wichtiger noch: Es zeigten sich kaum messbare Unterschiede zwischen Einkommensgruppen. Arme Menschen sind medizinisch in Deutschland im Schnitt genauso gut versorgt wie reiche Menschen.
Andere Länder haben zudem oft auch deswegen weniger Arztbesuche, weil das System anders aufgebaut ist. In Frankreich werden Erstuntersuchungen oft von Pflegepersonal durchgeführt, nicht von einem Arzt. In Schweden, wo es eine Kontaktgebühr von umgerechnet rund 19 Euro gibt, gibt es auch Online-Sprechstunden und Diagnosen per Videochat und Telefon. Das reduziert ebenfalls die Arztbesuche in der Praxis.
Diese Kosten verursachen Arztbesuche
Die Krankenkassen in Deutschland haben eine große Zahl von Ausgabenposten. Am teuersten sind nach der Auswertung für das vergangene Jahr Behandlungen im Krankenhaus. 102,2 Milliarden Euro gaben die Kassen dafür aus, knapp ein Drittel des gesamten Budgets von 312,3 Milliarden Euro. Auf Platz Zwei folgen Ausgaben für Medikamente mit 55,2 Milliarden Euro. Ambulante Behandlungen bei Ärzten folgen erst auf Platz Drei mit 50,3 Milliarden Euro. Das sind rund ein Sechstel aller Ausgaben.
Und: Die Kosten steigen nicht überdurchschnittlich an. Zwar lagen sie 2024 um rund 14 Prozent höher als noch 2020, die gesamten Ausgaben der Krankenkassen stiegen im gleichen Zeitraum aber um mehr als 25 Prozent an. Der Anteil der Arztbesuche an den Gesamtkosten ging entsprechend in nur vier Jahren von 17,7 auf 16,1 Prozent zurück.
So viele Arztbesuche sind wirklich unnötig
Das wiederum sind aber die Kosten für alle Arztbesuche, nicht nur die „unnötigen“, von denen Streeck und Kampeter reden. Deren Zahl zu bestimmen, ist nicht so einfach, denn oft stellt sich erst nach einem Arztbesuch heraus, dass dieser unnötig war. Generell als vermeidbar gelten Untersuchungen, die keinen medizinischen Nutzen bringen, Doppeluntersuchungen, also die berühmte zweite Meinung, und Vorsorge-Untersuchungen, die für den betreffenden Patienten keinen Nutzen bringen, weil er etwa keiner Risikogruppe angehört.
Mit diesen Definitionen versuchten Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin und des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI) im Frühjahr herauszufinden, wie viele Arztbesuche sich wirklich sparen ließen. Sie werteten dafür Abrechnungsdaten der Techniker Krankenkasse aus und beschränkten sich auf 24 medizinische Leistungen, deren Nutzen allgemein kritisch betrachtet wird. Dazu gehört etwa die Verschreibung von Antibiotika bei Erkältungen, radiologische Untersuchungen bei nicht näher definierten Rückenschmerzen und die Bestimmung bestimmter Schilddüsenhormone bei Patienten, bei denen bereits eine Fehlfunktion der Schilddrüse diagnostiziert war.
Ergebnis: Selbst bei diesen sowieso schon fragwürdigen Fällen lag die Zahl der unnötigen Arztbesuche nur zwischen 4,0 und 10,4 Prozent der Behandlungen. Das ist erstens eine große Schwankungsbreite, lässt aber zweitens vermuten, dass der Anteil unnötiger Behandlungen im gesamten Gesundheitssystem sogar geringer ist. Selbst, wenn die Quote aber über alle Arztbesuche gleichbliebe, lägen die Mehrausgaben wegen unnötiger Arztbesuche bei 2,0 bis 5,2 Milliarden Euro pro Jahr. Gemessen an den gesamten Kosten des Gesundheitssystems wären das also 0,6 bis 1,7 Prozent.
Eine Kontaktgebühr spart wahrscheinlich kaum Geld
Diesen kleinen Ausgabenposten wollen Politiker wie Streeck und die Arbeitgeber also gerne reduzieren. Vergleiche mit den Erfahrungen der Praxisgebühr liegen auf der Hand. Die führte tatsächlich zu einer Reduktion aller Arztbesuche um rund 8,7 Prozent im ersten Jahr. Demgegenüber stand aber ein enormer Verwaltungsaufwand der Ärzte. Sie gaben den mit 8,3 Millionen Arbeitsstunden im Jahr an. Die Praxisgebühr wurde dabei nur einmal im Quartal bezahlt, die von Streeck und Kampeter geforderte Kontaktgebühr würde hingegen bei jedem Besuch fällig – der Verwaltungsaufwand für die Ärzte würde also noch steigen. Entsprechend sprechen diese sich auch stark dagegen aus: „Dieser Vorschlag ist komplett undurchdacht“, sagt etwa die Vorsitzende des Hausärzteverbands, Nicola Buhlinger-Göpfarth, gegenüber der Rheinischen Post.
Bei der Praxisgebühr führte das dazu, dass die Zahl der Patientenbesuche pro Jahr sogar anstieg. Experten vermuteten, dass dies daran lag, dass aufgrund des höheren Verwaltungsaufwandes weniger Zeit für den eigentlichen Arztbesuch blieb und so häufigere Folgetermine notwendig wurden. Besonders hoch war der Anstieg bei Zahnärzten, was die Vermutung zulässt, dass viele sich die 10 Euro für eine Kontrolluntersuchung sparten, nur um später dann teurere Behandlungen ertragen zu müssen. Übrigens: Damals gingen Deutsche im Schnitt 18-mal pro Jahr zum Arzt, also fast doppelt so oft wie heute. Weil die Zahl der Arztbesuche bis 2012 nicht sank, beschlossen alle damals im Bundestag vertretenen Parteien, sie wieder abzuschaffen.
Zudem kritisieren die Hausärzte, dass eine Kontaktgebühr unsozial wäre. „Das würde insbesondere sozial Schwache finanziell komplett überfordern“, sagt Nicola Buhlinger-Göpfarth. Auch chronisch Kranke, die wegen ihres Zustandes häufig zum Arzt müssen, würden bei einer Kontaktgebühr schnell draufzahlen. Im Prinzip wäre eine solche Gebühr nichts anderes als eine Verbrauchssteuer wie etwa die Mehrwert- oder Tabaksteuer. Wenngleich solche Abgaben Verhaltensänderungen bei der Bevölkerung bewirken können, wirken sie zugleich aber auch immer auf Menschen mit niedrigen Einkommen stärker als auf Menschen mit hohem Einkommen, weil letztere mehr Möglichkeiten haben, sich den Abgaben zu entziehen und nur einen kleineren Teil ihres Einkommens sowieso für den Konsum aufwenden.
In Hagists Konzept ist zwar ein Deckel vorgesehen, doch dafür müssten Sie 48-mal im Jahr zum Arzt gehen – nur absolute Ausnahmefälle werden den je erreichen.
So wahrscheinlich ist eine Kontaktgebühr
Bisher fordern nur wenige Organisationen die Einführung einer Kontaktgebühr. Unter den Parteien ist sie unbeliebt. Die CDU hatte zwar noch zu Zeiten der alten Praxisgebühr auch das Konzept einer Kontaktgebühr vorgeschlagen, ist davon aber abgerückt. „Das ist mit unserem christlich-sozialen Kompass nicht vereinbar“, sagte Dennis Radtke, Chef der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), gegenüber der WirtschaftsWoche. Auch die CSU lehnt eine Kontaktgebühr ab, gleiches gilt für den Koalitionspartner SPD. Unter diesen Umständen ist also die Einführung einer Kontaktgebühr keine reale Gefahr. Die Oppositionsparteien haben sich bisher kaum direkt zu dem Vorschlag geäußert, die Linke hatte aber jegliche Vorschläge in diese Richtung schon immer abgelehnt.